Müller, Wolfgang / An Paenhuysen (Hg.)

GEBÄRDE ZEICHEN KUNST

Gehörlose Kultur / Hörende Kultur. Ausstellungskatalog 2012, deutsch/ englisch

Verlag/Label: Martin Schmitz Verlag, Berlin, 2012, 190 Seiten, 24,80 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/05 , Seite 93

Eine Ausstellung im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien in Berlin (November 2012 bis Januar 2013) versuchte anhand verschiedener Kunstformen das Spannungsfeld zwischen Gehörloser Kunst und Hörender Kunst darzustellen und aufzuarbeiten. Der zweisprachige, großzügig bebilderte Katalog mit Beiträgen von Barbara Eder, An Paenhuysen, Susanne Foellmer und anderen untersucht künstlerische Werke, die sich mit unterschiedlichen Formaten auf einer gehörlosen Sprach- und Kommunika­tionsebene wie etwa der Gebärdensprache bewegen.
Die Partizipation Gehörloser am akustischen Zeitgeschehen, insbesondere in von der breiten Öffentlichkeit weniger beachteten Zirkeln der Avantgarde, veranlasste den Mitbegründer der Berliner Gruppe «Die Tödliche Doris» und Mitherausgeber des vorliegenden Katalogs, Wolfgang Müller, dazu, 1998 die erste Langspielplatte dieser Formation von 1981 in voller Länge in Gebärdensprache zu übertragen. Diese Version der radikal-unkonventionellen Musik des Aushängeschilds der Subkultur stellte die Berliner Volksbühne 1998 erstmals live vor. Martin Büsser erzählt in dem erstmals 2007 in der Neuen Zeitschrift für Musik veröffentlichten Aufsatz, «dass es durchaus möglich ist, etwas so Komplexes und Eigenweltliches wie die sich stilistischen Einteilungen entziehende Musik der «Tödlichen Doris» konsequent in das System der Gebärdensprache zu übersetzen». Es sei etwas total Neues entstanden, sodass nicht mehr die Rede vom Original und seiner Übersetzung sein könnte.
An Paenhuysen untersucht in ihrem Beitrag «Gebärden-Pop und Hiphop» nicht nur «die ästhetische Schönheit des Gestischen», sondern sie beschreibt auch, wie elementar Gesichtsmimik und Gebärdensprache als Stilelemente des Hiphop auftreten. Die Gebärdensprache als Körpersprache scheint dem Hiphop auf den Leib geschrieben zu sein, der heute «eine bedeutende kulturelle Form Gehörloser» ist. Die Autorin betont aber auch, dass die Benutzung der Gebärdensprache keine Erfindung des Hiphop ist, sondern dass Pina Bausch bereits für ihr Stück Nelken diese Sprachtechnik einsetzte und den benutzen Song The Man I Love gebärdensprachlich übersetzte.
Die Möglichkeiten, die die zehn Finger der menschlichen Hand für die zwischenmenschliche Kommunikation und die Darstellung akustischer Vorgänge bieten, untersucht H-Dirksen L. Bauman, Professor für US-Gebärdensprache an der Gallaudet Universität in Washington D.C. Unter poetischen Gesichtspunkten stellen sich schwierige Fragen, wie überhaupt über Gebärdensprachenpoesie diskutiert werden kann. Der Beitrag über Valeska Gert und ihre exzentrischen Tanzpantomimen setzt das Phänomen des Gestischen in Relation zum traditionellen Theater- und Tanzrepertoire: «Gerts Ästhetik der Darstellung hebt dabei auf die Präsenz der Gebärde ab: sie allein soll die Zuschauenden in das Narrativ der Aufführung verwickeln» (Susanne Foellmer).
Der allseits vorherrschenden «Akustikrealität», die als Tonkunst einen bedeutenden Beitrag zur Kultur leistet, stellt dieser Katalog das Korrektiv der Zeichen(-sprache) entgegen und setzt damit eigene Maßstäbe des «Verstehens».

Klaus Hübner