Ammann, Dieter

Geborstener Satz (Streichquartett Nr. 1) / Gehörte Form – Hommages für Streichtrio / Après le silence für Klaviertrio / Streichquartett Nr. 2 (Distanzenquartett)

Verlag/Label: Musiques Suisses MGB CTS-M 124
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/02 , Seite 90

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 3
Booklet: 3
Gesamtwertung: 3

Es ist alles eine Frage des Standpunkts. Wie Dieter Ammann kann man sich an Strukturen reiben, an Normen oder an den merkwürdigen Tendenzen, die das Material vorgibt oder zumindest vorzugeben scheint. Ebenso legitim ist es, diesen Ansatz zum Prinzip eines Stücks zu erheben und somit in Form eines «geborstenen» Satzes zum Ausdruck zu bringen. Aber man kann es eben auch anders sehen, will sagen: kritischer. Ammanns 1. Streichquartett atmet schwer unter den Bedingungen einer Reihung ebenso heterogener wie kleinteiliger Passagen, die das Hören erschweren. Die Skepsis des Komponisten wird zur Skepsis des Hörers: Wie tragfähig kann ein elfminütiges Werk sein, wenn kaum Halt gegeben ist, keine Verbindlichkeit herrscht?
Ausschließlich Kammermusik von 1998 bis 2009 bietet die in der Reihe «Musiques Suisses» erschienene Porträt-CD des 1962 im Schweizer Aarau geborenen Dieter Ammann, der sowohl in der Improvisation wie der Komposition heimisch ist. Sechs Jahre nach Geborstener Satz für Streichquartett schreibt der zuletzt erfolg­reiche Komponist – in diesem Jahr «composer in residence» beim bedeutenden Lucerne Festival – sein zweites Streichquartett in Form eines «Distanzenquartetts». Rau ist die Klanglichkeit auch hier. Unüberhörbar ist aber die Tendenz, eine sicher große Klangfantasie formal auszugestalten. Dem Hörer kommt das ebenso zu Gute wie den Interpreten. Spielte das etwas ratlose casalQuartett den Erstling noch mit eintöniger Farbe, so verfolgt das Amar Quartett die Spuren des Komponisten mit bewundernswerter Flexibilität.
Zwei Trios sind zwischen den Streichquartetten zu hören. Gehörte Form – Hommages für Streichtrio (1998) besteht aus drei Sätzen. Weniger rabiat als in den Streichquartetten geht es hier zu. Glissandi, Klangflächen im piano intoniert, ein Auf- und Abebben prägt den ersten Satz. Wie hier, so herrscht auch im zweiten und dritten Satz eine organische Verbindung der Klänge vor, und das enge Anschmiegen der Instrumente gestaltet das Mondrian Ensemble hervor­ragend aus.
Im Klaviertrio Après le silence gelingt es Ammann am überzeugendsten, seinen teils ausufernden Ideenreichtum zu domestizieren. Unerwartet, dennoch narrativ folgen ausgedünnten Episoden rhythmisch akzentuierte Passagen, dann geht es über in eine – so Thomas Meyer in seinem gelungenen Booklet-Text – «schräge Minimal Music» um schließlich wieder in stillen Andeutungen zu enden. Wenn Benjamin Engeler, Pianist des Tecchler Trios, davon schreibt, dass sich das Klaviertrio «nicht erst auf den ersten oder zweiten Blick» erschließt, so gilt das wohl für Ammanns Œuvre insgesamt. Wer also Zeit mitbringt, die Werke öfters hört, der wird Freude an der opulenten Fantasie eines Komponisten haben, für den das Wort «Scheuklappen» ein fremdes ist.

Torsten Möller