Redepenning, Dorothea

Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik

Band II: Das 20. Jahrhundert, Teilbände 1 und 2

Verlag/Label: Laaber, Laaber 2008
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/03 , Seite 86

Das mit einem umfangreichen Anhang von Quellentexten, musikalischen Termini, einem Literaturverzeichnis (513 Titel), einem Personen- und Werkregister, Notenbeispielen, Bildern und Übersichtstabellen ausgestattete Buch ist eine Fortsetzung des 1997 erschienenen Bands I Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik: Das 19. Jahrhundert von derselben Autorin. Die wie im ersten Band gut ausgewogene Struktur hilft Redepenning, die enzyklopädische Überfülle des Materials zu bewältigen und zu ordnen. Jedes Kapitel beginnt mit einem breiten Panorama der politischen Konstellationen, denen das Musik- und Kulturleben im sowjetischen Russland untergeordnet wurde. Vor dem Hintergrund dieses Panoramas zeigen sich die verschiedenartigen künstlerischen Tendenzen und ästhetischen Richtungen wie auch die wichtigsten Vertreter der Musik und Kunst dieser Zeit.
Zum ersten Teilband gehören drei große Kapitel: I. «Zwischen den Revolutionen, 1905-1917», II. «Auf dem Weg zur sowjetischen Musik, 1917-1932», III. «Restauration – Musik im Stalinismus, 1932-1953». Schon in ihrem Vorwort weist Redeppening auf den Sonderweg der russischen Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert hin, die von einer multinationalen Kultur im Zarenreich in eine Art «meganationale» Kultur nach der Oktoberrevolution übergeht. Es wird die schwierige Frage der so genannten sowjetischen Identität gestellt, die nach der Wende durch «otecestvennyj» (vaterländisch) in der russischsprachigen Literatur ersetzt wurde. Zu Recht verzichtet Redepenning auf diesen Begriff (der sowohl wissenschaftlich als auch politisch unkorrekt ist, denn er bedeutet eine weitere «Russifizierung» der damaligen multinationalen sowjetischen Kultur) und behält den alten Begriff «sowjetisch» bei, der für die Epoche charakteristisch war.
Im Zentrum des ersten Kapitels wird neben der ausführlichen Betrachtung des Theater- und Musik­lebens wie auch der zahlreichen musikalischen Institutionen am Anfang des Jahrhunderts der Paradigmenwechsel von der realistischen und sozial gefärbten nationalen russischen Musik des 19. Jahrhunderts zu einer neuen Ästhetik (Diaghilev und seine «Saisons Russes») beschrieben. Gegenstand der Beobachtung sind auch solche ästhetischen Richtungen wie Symbolismus, Akmeismus und Futurismus wie auch wichtige Künstler der Zeit wie Alexander Skrjabin, Igor Strawinsky und Sergej Prokofjew in ihrer russischen Periode. Es werden auch einige avantgardistische Tendenzen der Musik besprochen.
Das zweite Kapitel macht die Entstehung der sowjetischen Musik im Spannungsfeld zwischen proletarischen und bürgerlichen Konzeptionen, zwischen Kunst und Macht deutlich. Aus einem Umfeld der Massenproduktion primitivistischer proletarischer Werke dieser Zeit ragt Schostakowitschs Oper Die Nase heraus, die von der Autorin sorgfältig analysiert und mit vielen Musikbeispielen dokumentiert ist. Im dritten Kapitel behandelt die Autorin anhand umfangreicher authentischer Dokumentation die Musik im Stalinismus und die Etablierung des Sozialistischen Realismus als offizielle ideologische Doktrin und Instrument der Repression. Im Zentrum dieses Kapitels stehen die politischen Diskussionen um die Oper Lady Macbeth von Mzensk von Schostakowitsch. Es werden auch solche sozialistisch-realistischen Opern wie Der Stille Don von Dzerinskij, Im Sturm von Chrennikov und Semyon Kotko von Prokofjew ausführlich analysiert.
Teilband II setzt zunächst das dritte Kapitel («Restauration – Musik im Stalinismus») des ersten Teilbandes in einer chronologisch anschließenden Phase fort: Vom «Großen Vaterlän­dischen Krieg» bis zu Stalins Tod. Es werden die patriotischen Massengattungen (Massenlieder, Kantaten, Oratorien) und die davon beeinflusste Instrumentalmusik wie auch die Lobgesänge auf Stalin dargestellt, von deren Hintergrund sich Schostakowitschs Symphonien-Trilogie (7., 8., 9.) deutlich abhebt. Im Zentrum dieses Teilbands steht das vierte Kapitel: «Von Stalins Tod bis zum Ende der Sowjetunion (1953-1991)» schildert «die allmähliche Ablösung von sowjetischen Idealen und den langsamen Zerfall der Ästhetik des sozialistischen Realismus» (S. 10). In der ersten Hälfte des Kapitels werden das spätere Schaffen Schostakowitschs, die neue Interpretation der Folklore im Schaffen von Georgij Sviridov und die Entstehung der so genannten «sowjetischen Avantgarde» unter die Lupe genommen.
In der zweiten Hälfte wird das heterogene Bild der sowjetischen Mu­sik der 1970er Jahre behandelt, das von Redepenning als «Pluralismus» bezeichnet wird. Ob man mit diesem Begriff wie auch mit dem Terminus «sowjetische Avantgarde» der künstlerischen Situation während der Zeit des blühenden totalitären Regimes gerecht werden kann, ist fraglich. Das scheint die Autorin selbst zu spüren, wie die Anführungszeichen ahnen lassen, in die sie das Wort «avantgardistisch» stellt, oder wenn sie von den «sogenannten» Avantgardisten» spricht. Daneben vermisst man die (Musik-) Ästhetik der nicht ideologiekonformen Musiker, etwa der zentralen Figur der postseriellen Richtung in Russland: Edison Denissov und seine Werke – besonders aus seiner späteren französischern Phase, wie z. B. seine Oper L’Écume des jours (1981). Es wäre allerdings schwierig, ihn im westlichen Sinne als Avantgardisten zu bezeichnen. Problematisch sind auch solche Begriffe wie «Neue Einfachheit», «Neo-Romantik», «Minimalismus», «meditative» Musik, die in anderen kulturellen und geografischen Kontexten entstanden sind und ganz andere ästhetische und terminologische Bedeutungen haben als in den späten sowjetischen Zeiten.
Statt solche «Schlagworte» zu übernehmen, die aus der westlichen Presse in die russischsprachige Publizistik gelangt sind, wie die Autorin selber erklärt, hätte ihr eine eigene Terminologie ermöglicht, sich unabhängiger mit den gegenwärtigen russischen Autoren auseinanderzusetzen. So würden viele Missverständnisse und Unklarheiten bei der Betrachtung von Kompositionsstilen und Werken (siehe das Kapitel «Minimalismus – Neue Einfachheit – Neo-Romantik») vermieden. Insgesamt ist diese großzügig angelegte Aufarbeitung der russischen und sowjetischen Musikgeschichte durchaus eine Bereicherung für den deutschsprachigen Raum, nicht nur für Musikwissenschaftler, sondern für ein breites, an der russischen Kultur interessiertes Publikum.

Maria Kostakeva