Duchesneau, Louise / Marx, Wolfgang (Hg.)

György Ligeti

Of Foreign Lands and Strange Sounds

Verlag/Label: Boydell Press, Woodbridge 2011 | 298 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/02 , Seite 91

Die Buchidee geht zurück auf ein Festival zum Gedächtnis Ligetis, das Ende 2007 in Dublin stattfand. Der Gedanke, den «Geist von Dublin» zu bewahren, verselbstständigte sich indes. Autoren änderten ihren Blickwinkel, neue Stimmen kamen hinzu. Kollegen, Freunde, Studenten von einst ergänzen nun das Bild Ligetis facettenreich.
Als seine langjährige Assistentin, die ihn vor Zudringlichkeiten abschirmte, die nötige Korrespondenz führte, Interviews, Konferenzen, Konzerte ver­mittelte und Honorare aushandelte, ist die kanadische Musikwissenschaftlerin Louise Duchesneau eine Zeugin ersten Ranges. Ihrem Einblick in Ligetis Schallplattensammlung, die neben zeitgenössischer Musik, Jazz und Popmusik vor allem europäische Volksmusik und Musik aus Afrika, dem Mittleren Osten, Asien und Ozeanien enthält, verdankt der Leser aufschlussreiche Hinweise auf die verschiedensten Inspirationsquellen des Meisters.
Der mit Werkskizzen und originellen Fotos illustrierte Sammelband beginnt mit einem Rückblick des kanadischen Musikforschers Friedemann Sallis auf die Budapester Studienzeit bei Sándor Veress und dessen Einfluss auf Ligetis Frühwerk. Benjamin Dwyer, Kurator des Dubliner Festivals, beobachtet das Bleibende im Wechsel der Klangbilder Ligetis über Jahrzehnte hinweg, wobei er als gemeinsames Kompositionsmittel der Solosonaten für Violoncello bzw. Viola «transformational ostinati» entdeckt, die er auf Machauts Motettenkunst zurückführt.
Polyrhythmik und immanenter Puls in Ligetis späten Konzerten und den Klavieretüden entspringen wesentlich dem Hörerlebnis afrikanischer Kulttänze. Um die Mittlerrolle, die Simha Arom – Holocaust-Überlebender wie Ligeti – dabei spielte, und die Eigenart schwarzafrikanischer Musik geht es in einem Interview, das die Herausgeber mit dem Musikethnologen in Paris führten. Ein zweiter Brennpunkt seiner schöpferischen Neugier kristallisierte sich in den 1980er Jahren heraus: die Fraktalgeometrie. «Continuum, Chaos and Metronomes – A Fractal Friendship» überschreibt der Mathematiker Heinz-Otto Peitgen seinen chaostheoretisch ebenso anschaulichen wie musikverständigen Aufsatz.
Als Quelle zum Verständnis der kompositorischen Praktiken Ligetis und seiner musikalischen wie außermusikalischen Schaffensimpulse kaum zu überschätzen ist das Konvolut von Skizzen, Notizen, Tabellen, Diagrammen und Schaubildern, die der Forschung jetzt samt Schallplatten-Nachlass in der Sacher-Stiftung zugänglich sind. Richard Steinitz, Emeritus der Universität Hud­dersfield und Vater des dortigen Festivals zeitgenössischer Musik, vertiefte sich in Basel in das Skizzenmaterial zum Horntrio und Klavierkonzert, während der Washingtoner Musiktheoretiker Jonathan W. Bernard die Entstehungsstadien des Kyrie aus dem Requiem studierte.
Wie es in Ligetis Hamburger Kompositionsklasse zuging, ob er überhaupt Lehrer war oder nicht eher geistiger Unruhestifter, ein Geber und Nehmer, der kraft eigener Suche nach dem
Unerhörten Maßstäbe setzte – dazu äußern sich zwei seiner ehemaligen Hamburger Studenten. Wolfgang-Andreas Schultz widmet sich vornehmlich dem Spannungsverhältnis von Handwerk und Ästhetik, während Manfred Stahnke den Leser an hitzigen Debatten teilnehmen lässt, Ligetis Einstellungen zur «neuen Musik» und den Seilschaften des Musikbetriebs schildert und die Horizonte seiner musikalischen Vorstellungswelt ausmisst.

Lutz Lesle