Ligeti, György
György Ligeti: String Quartets | Samuel Barber: Molto adagio
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5
Retrospektiv scheint es häufig kaum nachvollziehbar, weshalb sich ein Urheber dazu entscheidet, Teile seines (frühen) Werks nicht zu veröffentlichen. Man denke beispielsweise an Kafka oder Chopin, deren Nachlässe erst wahre Schätze ans Licht der Öffentlichkeit brachten, die dem Urteil der Autoren aber wohl schlicht nicht gerecht wurden.
Im Falle von György Ligetis erstem Streichquartett weiß man aus erster Hand, dass der Schöpfer das Werk zu sehr im Schatten des großen Bartók verhaftet sah und sich selbst darin klangsprachlich zu wenig wiederfand. 1954 vollendet, war den Métamorphoses nocturnes nach dem Weggang Ligetis von Budapest etwas später in Wien nur eine einzige Aufführung vergönnt, nach der das Werk fast zwanzig Jahre ungehört blieb. Wenn auch die Bereitschaft, sein folgendes Streichquartett ohne Umschweife No. 2 zu betiteln, vom zurückkehrenden Willen Ligetis zur Akzeptanz seines Frühwerks zeugt, vermerkt er doch in einem Programmtext, das erste Quartett sei eine Art «altmodischer» Version seines später typischen Stils, mit noch deutlich «melodischen, rhythmischen und harmonischen Gebilden und Taktmetrik».
Dieses etwas stiefmütterlich behandelte Frühwerk verknüpft die CD mit Samuel Barbers populärster Komposition, dem langsamen Satz aus seinem String Quartet No. 1 von 1936, auf dem das berühmte Adagio for Strings basiert, und bringt damit zusammen, was noch vor wenigen Jahrzehnten grundlegend unvereinbar schien. Der Neutöner Ligeti und der im Romantizismus schwelgende Barber? Aber es funktioniert: Zwischen den sich ruhelos verändernden, mitunter schwindelerregenden Klängen der beiden Streichquartette Ligetis wirkt Barbers Komposition wie tonale terra firma, die versöhnt und verbindet.
Die ästhetische Distanz zwischen Barber und Ligeti wird interessanterweise nicht nur durch die mittlerweile verstrichene Zeit nivelliert, es ist auch das kühne interpretatorische Wahrnehmungsvermögen des Keller Quartetts, das die Unterschiede aufhebt. Die Musiker finden verwandte Konturen und gar geschwisterliche Züge in den Werken und transferieren Eigenschaften mühelos über vermeintliche Genregrenzen hinweg: Ligetis Stücke erhalten im Dialog eine bewegende Expressivität, während Barber mit sparsamem Vibrato unheimlich, entrückt und beunruhigend wirkt. Mühelos behauptet das Keller Quartett seinen Status als profiliertestes Quartett Ungarns, selbst waghalsige Spieltechniken wie pizzicato glissando (!) meistert es spielerisch und unverkrampft.
Am CD-Booklet besonders zu erwähnen ist der sehr aufschlussreiche Essay von Paul Griffiths, der anhand des Heimatbegriffs eine weitere Dimension zwischen Ligeti und Barber öffnet. Während die romantische Tradition für Barber durchaus eine Heimat bedeutete, die es zu wahren und ehren galt, ist Heimat für Ligeti egal ob geografisch, biografisch oder musikalisch immer ein Ort, der verlassen wird. In Konsequenz bedeutet der letzte Akkord des zweiten Streichquartetts für Griffiths auch «more expiration than arrival, more exhaustion than homecoming».
Patrick Klingenschmitt