Hidalgo, Manuel

Hacia

Verlag/Label: Kairos 0012982KAI
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/04 , Seite 85

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

«Bei mir gab es wohl immer eine gewisse Kargheit oder Einfachheit der Textur und der Ideen […] Das Einfache entsteht bei mir aus meinem Untalent, aus meiner Ignoranz, aus meiner Unfähigkeit, sehr komplexe Aspekte zu steuern oder zu gestalten. Ich schreibe die Musik, die ich mir vorstellen kann. Eine einfache Musik ist für mich kein Ziel. Sie ist ein unausweichliches Resultat.» In solchen Worten, mit denen der spanische Komponist Manuel Hidalgo seine Arbeitsweise beschreibt, schwingt ein bisschen viel Understatement mit. Zwar liegt der bewusste Verzicht auf komplexe Konstruktionsprozesse bei Hidalgo auf der Hand, aber seine Musik mit einer gezielten arte povera oder gar Simplizität in Verbindung zu bringen, würde an ihrem Wesen völlig vorbeigehen, auch wenn Stücke wie die Einfache Musik (1989) geradezu programmatisch ästhetische Bescheidenheit annoncieren.
Vielmehr ist gerade dieses Stück für Streichorchester (das im Übrigen für die Musikschule Singen am Hohentwiel entstand) in der fesselnden Darstellung des Ensemble Resonanz einer der spannendsten Beiträge dieser WDR-Produktion. Hidalgos hohe Kunst des «Weniger ist mehr» zeigt sich hier in einer wundervoll klaren Musik, die ihren Reichtum in der Beschränkung aufs Wesentliche entfaltet und eine geradezu physisch wirksame Rhetorik entwickelt (siehe Beethoven). Dabei ist sie sich in jedem Augenblick ihrer Klangphysiognomie vollauf bewusst.
Diese Tugend mag Hidalgo von seinem Lehrer Helmut Lachenmann mit auf den Weg bekommen haben. Dessen Einflüsse sind in Hidalgos
erstem Streichquartett Hacia (1980) unüberhörbar, dessen geräuschhafte Mikro-Gestik allerdings weitaus rhyth­mischer konzipiert ist als beim Erfinder der «Musique concrète instrumentale». Ebenso fragmentarisch, aber wesentlich eigenwilliger tönt 14 Jahre später das 2. Streichquartett (1993/94): eine Musik der Andeutungen und kurz­lebigen Kristallisation melodischer Gebilde, welche die konventionelle Tongebung wieder entdeckt hat und mit einer Fülle von Quart-, Quint und Oktav-Klängen eine betont konsonante (häufig auf den leeren Saiten basierende) harmonische Landschaft entwirft.
Dass man bei Hidalgos «ungemütlicher Verständlichkeit» (Nikolaus Brass) nicht selten expressive Gesten heraushört, die einem explizit aus der Musik Beethovens vertraut scheinen, ist alle andere als ein Zufall. Seine große Affinität zu Beethoven hat Hidalgo in zahlreichen Bearbeitungen zum Ausdruck gebracht. Zwei davon sind hier vertreten: Die Instrumentierung der Großen Fuge op. 133 (1825/ 1992) hinterlässt allerdings zwiespältige Eindrücke. Vielleicht, weil die strukturelle Komplexität der Vorlage in einer betont dramatischen, gelegentlich auch grotesk überzeichneten Orchestrierung einfach zu überladen rüberkommt? Viel überzeugender geraten da die Sechs Bagatellen op. 125 – «Ciclus von Kleinigkeiten» (1823-24/2009) für Streichorchester, deren lichte Faktur mehr Raum für klangfarbliche Eingebungen und poetische Wirkung bietet, was Hidalgo denn auch mit großer Eindringlichkeit und emotionaler Verve ausnutzt.

Dirk Wieschollek