Heliocentric Counterblast

A Tribute To Sun Ra

Verlag/Label: enja / yellowbird 97132
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/04 , Seite 81

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 3

Geburtsort: Saturn. Name: Sun Ra. Beruf: Polarisator. Nebenjob: Musiker, Philosoph, Poet, Komponist. Wem diese Kategorisierung als «Irreführung der Behörden» (ein Romantitel von Jurek Becker) erscheint, hat Recht: Der Mensch hinter den Verschleierungen heißt bürgerlich (!) Herman «Sonny» Blount, 1914 in Birmingham/Alabama geboren und dort 1993 gestorben. Seine Lebensleistung besteht nicht nur darin, den Rassendiskriminierungsrealitäten in den USA getrotzt und – vielleicht auch aus Selbstschutz – sich einen selbstgestrickten Mythos aus astrologischer Herkunft gebastelt zu haben. Vor allem ist der Free Jazz ohne die innovativen Beiträge Sun Ras kaum denkbar. Und das, obwohl der Künstler sich für die swingende Musik der Big?Bands der 1930er Jahre begeisterte, zu Beginn der 1940er Jahre selbst in einem großformatigen Orchester spielte und später sein «Arkestra» gründete. Dabei gestaltete er sein Leben immer exzentrischer, kleidete sich in sonderbare Kostüme und trug ägyptisch beeinflussten Kopfschmuck.
Unterstützt von der «Initiative Mu­sik», einer Fördereinrichtung der Bundesregierung und der Musikwirtschaft, erinnert die von Kathrin Lemke angeführte Formation «Heliocentric Counterblast» mit dem Album A Tribute To Sun Ra an die Musik des Sonderlings. Sechs Stücken des kauzigen Weltraumbewohners und dem klassischen S’ Wonderful von George Gershwin – vom Sun Ra-Album Somewhere Else transkribiert – steht je eine Komposition von Lemke und von Trompeter Nikolaus Neuser gegenüber. Do To Voodoo von Kathrin Lemke kopiert die Klangsprache des Meisters, ohne sie als reine Nachahmung wahrzunehmen. Dem atmosphärisch verdichteten Sun Ra-Zwischenreich stellt Lemke eine ausladend-grazile, nahe an der Quelle taktierende musikalische Freiheit gegenüber, die den urväterlichen Free-Jazz-Gefühlen des Geehrten gefallen würde. Eine Spur unbeherrschter und zerrissener erwidert Trompeter Neuser in Hypertorus (das sind über einen kreisförmigen Pfad miteinander verbunde, in einer Reihe liegende Knoten) eine allzu heftige Umarmung eines Künstlers, der zwar hochverehrt und respektvoll als Wegbereiter genannt wird, dessen Musik heute allerdings kaum gespielt wird.
Im nächsten Jahr jährt sich zum zwanzigsten Mal der Todestag von Sun Ra. Im Kern eines heliozentrischen Weltbildes umkreisen die Planeten die Sonne, erwärmen sich, gedeihen und blühen auf. «Jeder Musiker muss realisieren, welcher Ton und welche Tonart für seine eigene Mentalität gut ist,» sagte Sun Ra. Dieser Maxime ist Heliocentric Counterblast mit einem Tribute-Album gefolgt, das einen Großen des Jazz ehrt, ohne ihn als unerreichbares Denkmal zu umschmeicheln. Die Bilder, die Sun Ra durch einen sphärischen Sound im Kopf seiner Zuhörer erzeugte, werden durch die Interpre­tationen des Lemke-Oktetts endlich wieder zugänglich – ohne dass eine Reise zum Saturn nötig wäre.

Klaus Hübner