Bauckholt, Carola

hellhörig

Verlag/Label: Coviello Classics, COV 61009
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/06 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5

«Obwohl bei einigen avantgardistischen Kompositionen das Zusehen interessanter oder aufschlussreicher sein kann als das Zuhören, der Show-Gag ja auch mitkomponiert ist, sollte man besser mit geschlossenen Augen dabei sein: denn es lenkt von den sehr wohl vorhandenen Nuancen oder Geräusch-Kompositions-Strukturen, ja den entwickelten Geräusch-Farben ab, wenn man anschaut, wie die Tonproduktionen entstehen», schrieb Wolf-Eberhard von Lewinski nach der Uraufführung von Helmut Lachenmanns Air am 1. September 1969.
Was hat Air aber mit Carola Bauckholts hellhörig zu tun, das 2008 im Rahmen der Münchener Biennale aus der Taufe gehoben wurde? Unterscheiden sich die «Klangbilder» und schöpferischen Motivationen auch krass, so ist die Wahrnehmung in beiden Werken doch ganz «hellhörig» auf komplexe Geräuschwelten gerichtet. Und forderte besagter Kritiker bei Air das Zuhören mit geschlossenen Augen, so gilt dies für Bauckholts hellhörig ebenfalls, obwohl es sich um «Musiktheater» handelt. Dies mutet paradox an, da der Verlust des Optisch-Szenischen auf Tonträger in anderen Fällen eher als Defizit empfunden wird. Carola Bauckholt tat jedoch gut daran, nicht auf DVD, sondern auf CD zu setzen, da hellhörig so seine Qualitäten voll ausspielt, ja, stärker ausspielt, als wenn, wie in Auffüh­rungen, die Klanggenese sichtbar ist. Selbstverständlich liegt das zu einem Gutteil daran, dass es sich nicht im Mindesten um herkömmliches Musiktheater handelt, kommt hellhörig doch ohne narratives Moment, Libretto oder Texte im weitesten Sinne aus. Stattdessen eröffnet das Werk eine «Fantasiesprache» der Klänge, deren Erzeugung zu beobachten zwar gewiss spannend sein kann, aber eben auch desillusioniert und ablenkt. Dass Erfindungsreichtum, Akribie und – zumal bei den Stimmen – auch Virtuosität bei der Realisierung vonnöten sind, erschließt sich mühelos über das geistige Auge.
Etwas schwerfällig mutet der Beginn von hellhörig an – als müsse zunächst, in einem Aufheizungsprozess, Betriebstemperatur erreicht werden, als würde sich jener unwiderstehliche Sog erst aufbauen, der den geneigten Hörer mit sich fortreißt auf eine bizarre Klangreise. Dann aber gibt es kein Halten mehr. Wie in Trance werden immer wieder neue Klangräume durchmessen, entführt hellhörig ebenso in die schrille Sphäre imitierter Naturlaute, etwa Seemöwe, Ziege und Schlittenhunde, wie in scheinbar mechanisch-technisch dominierte Gefilde. Beide Ebenen stehen sich aber nicht unversöhnlich gegenüber, sondern greifen ineinander, bespiegeln sich, vereinigen sich, fließen ineinander. Diese utopische Dimension ist indes nicht als versteckter moralischer Zeigefinger, geschweige denn als «Programm» gemeint. Sie ist allenfalls ein Neben­effekt im Kontext ästhetischen Hochgenusses.

Egbert Hiller