hildegard von bingen : john cage

Hildegard von Bingen: 9 Antiphonen | John Cage: Sonnekus2

Verlag/Label: Edition Wandelweiser Records, EWR 1201
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/03 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 2

Fast 900 Jahre sind es, die beide trennt: auf der einen Seite John Cage, auf der anderen Seite die Benediktinerin und Komponistin Hildegard von Bingen. Man würde nicht auf die Idee kommen, dass von Bingens so archaisch-karge, in Neumen- und Hufnagelnotation überlieferte Gesänge zu den experimen­tellen Ansätzen Cages passen könnten. Irene Kurka aber, die Spezialistin für reduzierte Klänge, entdeckte zusammen mit Antoine Beuger im Œuvre des Amerikaners die Sonnekus2, 1985 komponiert für Solostimme. Sie beruhen wie von Bingens Vertonungen auf religiösen Texten. Von Passagen aus dem ersten Buch Mose, der Genesis, ließ sich Cage inspirieren und setzte dazu einfache Motive, manchmal auch nur einzelne Töne, zwischen denen ausgiebige Pausen stehen. All diese reduzierten Gestalten tragen zur Andächtigkeit bei, die Cages Sonnekus2 ebenso ausstrahlen wie die Lieder und Codices Hildegard von Bingens.
So klug Kurka neun Jahrhunderte verklammert, so herausragend trifft sie den Ton der Stücke. Exakt bemessen ist das Metrum in Cages Sonnekus2. Rhythmische Strenge, insbesondere wichtig für die Pausen und Zäsuren, paart sich angenehm mit einem sehr lyrischen und unaufdringlichen Sopran, den Komponist und Komponistin selten in extreme Höhen treiben. Unmittelbar ist zu spüren, dass sich Kurka mit Tonqualitäten und -mo­dulationen lange auseinandergesetzt hat, sei es in den Stücken der Wandelweiser-Komponisten Jürg Frey oder Antoine Beuger oder in den empfindlichen Werken eines Nikolaus Brass. Cage hatte einmal erwähnt, dass seine neun Sonnekus2 «folklike» gesungen werden sollten. Für Kurka bedeutet das keine Bruststimme und vor allem keine manierierte Ornamentik. Gerade, schlicht, ohne Vibrato singt diese außergewöhnliche Sopranistin, und – das vor allem – gekonnt.
An der fantastischen Klanglichkeit der mit dem Bayerischen Rundfunk koproduzierten CD haben die Tontechniker Lutz Wildner, Christoph Stechbart und Thomas Hirschberg gewiss ihren Anteil. Das Münster Heilbronn gibt Kurkas glasklarer Stimme viel Raum ohne größere Verwischungstendenzen, die in einem Kirchenraum schon mal auftreten sollen. Sowohl die Stücke von Bingens als auch die John Cages bietet die CD geschlossen, aber auch im inspirierenderen Wechsel. Nur eines ist an der Produktion aus dem Hause Wandelweiser Records zu bemängeln: Da es sich bei den Cage’­schen Sonnekus2 ebenso um musikhistorische Raritäten handelt wie bei den Liedern Hildegard von Bingens, wären Informationen über die Werke schon sinnvoll gewesen. (Lediglich die Gesangstexte sind abgedruckt.) Das Book­let fiel offenbar dem Reduktionsbedürfnis der Wandelweiser zum Opfer. Letztlich wohl auch dem Sparbedürfnis, das hoher Kunst zumindest diesmal nicht im Wege steht.

Torsten Möller