Historische Aufnahmen / Historical Recordings

Volume 1hg. von Felix Kubin

Verlag/Label: 12» LP, Gagarin GR 2013
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/03 , Seite 92

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Die 2008 digital rekonstruierte und wieder hörbar gemacht phonautographische Aufnahme des französischen Volkslieds Au Clair de Lune gilt seitdem als weltweit älteste Tonaufnah­me. Der von Édouard-Léon Scott de Martinville im Jahr 1860 erfundene Phonautograph konnte Töne nur aufnehmen, jedoch nicht, wie Thomas Alva Edisons 17 Jahre später gebauter Phonograph, auch wiedergeben. Seit diesem bedeutenden Fund werden in diversen Archiven und Privaträumen audiophone Aufnahmen vermutet: «Man kann nur den bereits geschehenen, unwiderruflichen Verlust vieler ähnlicher Artefakte beklagen. Wie viele Wachswalzen-Sammlungen mö­gen nach dem Tod ihrer Besitzer zerstört worden sein? Welche bezaubernden Klänge und betörenden Stimmen schlummerten auf Dachböden in Türmen von Tonbandspulen, gefunden von Verwandten und Nachmietern und ahnungslos verfrachtet auf Flohmärkte?», fragte sich Felix Kubin.
Der 1969 in Hamburg geborene Musiker, Komponist, Hörspielmacher und Radioproduzent stöberte und suchte in den vergangenen fünf Jahren nach bisher vernachlässigten Aufnahmen in Archiven und Privatsammlungen. In der ersten Ausgabe der Sammlung Historische Aufnahmen stellt Felix Ku­bin unter anderem verlorene Dokumente avantgardistischer Künstler (Hans Henny Jahnn, Welimir Chlebnikow, David Tudor), betrunkene Walfänger auf norwegischen Walfangfestspiele, pygmäische Jagdrituale und das Rauschen des Planktons im Marmarameer vor.
Zu den beeindruckendsten Aufnahmen zählt der Versuch eines nationalsozialistischen Großkopfeten, den Prototyp eines Vorläufers des heutigen Synthesizers zu bedienen. Der deutsche Komponist Oskar Sala demonstrierte 1935 in der Rundfunkversuchsstelle in Berlin dem Reichspropagandaminister Joseph Goebbels die vielfältigen Möglichkeiten des von Sala modifizierten und erweiterten Modells des Volkstrautoniums des Erfinders Friedrich Trautwein. Dem Verbreitungsprinzip des Volkswagens folgend, hoffte Sala darauf, bei dem in­teressierten Goebbels Unterstützung beim kommerziellen Einsatz des Instruments zu finden. Sala setzt bei
dieser Aufnahme erstmals den Widerstandsdraht ein, der dazu diente, spezifische Frequenzen zu finden und damit die Tonhöhe zu bestimmen.
«Hineinhorchen in eine andere Welt» war eines der Prinzipien, die in weit zurückliegender Vergangenheit Forscher und Akustiker nicht ruhen ließen, künstliche Tonquellen oder originale Field Recordings zu finden und zu konservieren. Fast wie eine Geschichte von Edgar Allan Poe hört sich die Aufnahme eines Vorfalls vom 7. Oktober 1938 in einem finnischen Fernmeldeamt an, die der Jazzmusiker Jorma Tapio im Nachlass seines Cousins Adam Viuhko fand. Es handelt sich um einen erfolglosen telefonischen Notruf in Arjaru, wo auch der dem Okkultismus nahestehende Jean Sibelius wohnte. An besagtem Tag hielt Sibelius eine Séance ab, in der er versuchte, Kontakt zum verstorbenen Wissenschaftler Elias Lönnrot herzustellen. Vergeblich.
Was allzu oft im Rauschen und Knistern untergeht und als Geräuschmüll verächtlich zur Seite gelegt wird, kommt durch Felix Kubin zu neuer Aufmerksamkeit.
Klaus Hübner