Gottwald, Clytus

Hörgeschichte der Chor­musik des 20. Jahrhunderts

mit CD

Verlag/Label: Carus, Stuttgart 2009
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/05 , Seite 94

In der Gleichzeitigkeit der Fischer-Chöre und der legendären, 1968 von Clytus Gottwald gegründeten Schola Cantorum Stuttgart darf man wohl eine der bemerkenswertesten Volten des schwäbischen genius loci erkennen: dort der Therapeut wunder Seelen, hier der Anwalt eines «Lobgesangs mit durchschnittener Kehle» (Holliger über PSALM); dort der kollektive Zauber alter vertrauter Weisen, hier die gebrochene und reflektierte Magie einer neuen Vokalität; dort der Spielraum wohlinszenierter Geborgenheit, hier der Ernstfall ständiger Horizontüberschreitung; dort die Bestätigung dessen, was ist, hier der auskomponierte Zweifel und die Frage nach dem, was sein sollte. Vor diesem spannungsvollen Szenario ist Clytus Gottwalds jüngste Schrift zu lesen, mit der dieser umfassend gebildete wie wortmächtige Geist die Chormusik des 20. Jahrhunderts zwischen Richard Strauss und Brian Ferneyhough zu einer eindrucksvollen Hörgeschichte verdichtet.
Als Musikwissenschaftler vielfach ausgewiesen und zugleich mit profunder theologischer, philosophischer und anthropologischer Kompetenz gerüstet, weiß Gottwald wie kaum ein anderer die Zeichen der Zeit zu deuten und den großen Problemen unserer Gegenwart, in die auch das chorische Metier zutiefst verstrickt ist, kritisch und zugleich wegweisend zu begegnen. Dass die Vortragsbezeichnung «Wie aus der Ferne» im Partiturausschnitt von Ligetis Lux aeterna auf dem Coverbild zu sehen ist, steht programmatisch für den historisch-analytischen Rückblick des Autors auf das vergangene Jahrhundert. Der belässt es indessen nicht bei einer Mauerschau, sondern bringt sich selbst mit ein als engagierter Partner, aber auch als Partisan.
Denn Gottwald redet Klartext ohne einen Anflug von Altersmilde, wo immer es ihm geboten erscheint, und er markiert den Sitz im Leben, den die Chormusik auch in einer radikal veränderten Welt noch immer hat. Eine beigefügte CD mit zwölf repräsentativen Klangbeispielen (u. a. mit Werken von Schönberg, Distler, Messiaen, Nono, Ligeti und Kagel) belegt die im Textteil formulierten Einsichten, die Gottwald u. a. im Rekurs auf den von Thomas S. Kuhn in die wissenschaftstheoretische Diskussion eingeführten Begriff des Paradigmas (bzw. des Paradigmenwechsels) gewonnen hat. Im Vokalavantgardismus der 1960er Jahre erkennt Gottwald unter Hinweis auf Michel Foucaults Denken «eine Art Archäologie», die sich etwa bei Schnebel (dt 31,6) und Kagel (Hallelujah) als ein Zurück ad fontes (d. h. zu den Wurzeln archaischer Lautierung) niedergeschlagen hat. Der damit verabschiedete Belcanto ist bei Kagel im wörtlichen Sinn zum Bell-Canto mutiert.
Pierre Boulez hat in Gottwalds Schriften «eine adhäsive Form des Denkens» wahrgenommen, und er meint damit den Austausch zwischen Theorie und Praxis, die Vermittlung von Fernem und Nahem, die Koinzidenz von Gefühl und Reflexion. Solches adhäsive Denken bestimmt auch die vorliegende Publikation, ohne indessen zum Alleskleber zu verkommen, und so vernimmt der Leser mitunter auch vehementen Einspruch: So nicht! «Bruckner meets Tango» (S. 31) zum Beispiel ist Gottwalds Sache nicht, wie er dem Crossover-Kult insgesamt mit größtem Argwohn und guten Gründen begegnet. Die von ihm eingeforderte Vorstellung von Bildung und Kultur wiederum ist ihm unverträglich mit dem, was von den Medien (vorab vom Fernsehen) unter diesen Siglen produziert und verbreitet wird: für Gottwald mehr ein Event als eine Aventure des Geistes.
Seine Schrift endet unter Berufung auf Ferneyhoughs Time and motion study III und Paul Virilio (Ästhetik der Schnelligkeit), Eichendorffs warnendes «Hüte dich, bleib wach und munter!» wie aus der Ferne mitdenkend. Damit wird noch einmal die Weite eines Denkens beglaubigt, das, gestützt auf intensivste praktische Erfahrung mit der Sache Chormusik und auf höchste künstlerische Reputation, für eben diese Sache Partei ergreift – und damit für die Menschen, die sich ihr verschrieben haben. Ein solches Buch verdient Dank und Gratulor! Vor allem aber gelesen zu werden.

Peter Becker