Hungarian Diary

György Ligeti: Musica ricercata | György Kurtág: Játékok | Franz Liszt: Bagatelle sans tonalité / Nuages gris / Resignazione

Verlag/Label: Winter & Winter 910 212-2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/04 , Seite 86

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 1

György Ligetis Musica ricercata wurde eigentlich für Klavier geschrieben, so wie alle anderen Kompositionen auf dieser CD, die von ungarischen Komponisten stammen und damit den Titel Hungarian Diaries – ungarische Tagebücher – erklären. Interpretiert werden die Stücke allerdings auf einem Akkordeon. Keine seltsame Herangehensweise, handelt es sich doch bei beiden Instrumenten um Tasteninstrumente. Dennoch bleibt die Frage: Warum sollte man Stücke, die ursprünglich für das Klavier konzipiert worden sind, auf einem Akkordeon nachspielen?
Womöglich könnte ein flexiblerer Umgang mit Mikrofonierungen einer von vielen Gründen dafür sein. Dem Akkordeonisten ist es möglich, sein Instrument zu bewegen, während der Pianist mit einer fixierten Klangmaschine und damit auch Mikrofonierung arbeiten muss. Das bedeutet, dass bestimmte Klänge oder Klangpassagen stärker in den Mittelpunkt gerückt werden können. Bei Ligetis galoppierendem «Allegro con spirito» glaubt man buchstäblich die aus den Lautsprechern tönenden Sounds berühren zu können. An dieser Stelle sei ein Lob an die Tontechnik ausgesprochen, die es auch verstanden hat, die vielen Nebengeräusche des Akkordeons einzufangen. Man hört das Klappern der Tasten und das Atmen der Ventile. Das schafft Intimität. Es entsteht der Anschein, als spiele Teodoro Anzellotti, der ein Meister seines Instruments ist, ein exklusives Konzert für den Hörer ganz alleine. Seltsam ist lediglich die Interpretation des «Mesto, rigido e cerimoniale», ein Stück, das der Regisseur Stanley Kubrick in der originalen Klavierfassung in dem Film Eyes Wide Shut einsetzte. Die kurze Komposition mit ihrem repetitiven Dreitonmotiv vermittelte dem psychosexuellen Beziehungsdrama eine nervenzerreißende Spannung und Bedrohlichkeit, die der Akkordeon-Version leider fehlt.
Auf dem Programm stehen darüber hinaus noch ausgewählte Stücke aus György Kurtágs Játékok-Kompendium. Die Kompositionen des Ungarn lassen sich als Fragmente auffassen; nur selten sind sie länger als eine Minute. Radikale Momentaufnahmen, Versuchsanordnungen zur Erforschung von extremen Verdichtungen musikalischer Expressivität. Anzellotti versteht es, die Musik eindrucksvoll zu interpretieren, die Stasis und eruptive Kraft der Stücke wiederzugeben und ihre Einfachheit und Komplexität in unverbrauchten klanglichen Schattierungen zu präsentieren. Das gilt auch für die Interpretation von Franz Liszts Nuages gris. Die morbide Stimmung und dunkle Symbolik der trüben Wolken kommen im Vergleich zur Klavier-Fassung noch stärker zum Ausdruck. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Anzellottis Version dem Stück eine spröde Qualität gibt.
Negativ fällt lediglich die inhaltliche Gestaltung des Booklets aus. Neben der obligatorischen Tracklist findet man lediglich einen biografischen Text. Das ist schade. Interessanter wäre die Inklusion eines einführenden Essays in Anzellottis musikalisches Denken und seine Philosophie der Adaption und Interpretation gewesen.

Raphael Smarzoch