Savenko, Svetlana
Igor Strawinsky
Physiognomie eines Komponisten (Reihe musik konkret, Band 20)
Nicht nur musikalische Aspekte in Igor Strawinskys künstlerischem Schaffen stehen auf der Agenda von Svetlana Savenkos Analyse des russischen Komponisten. Die Professorin für Musikwissenschaft, die nebenberuflich zusätzlich als Sopranistin in Erscheinung tritt, ist auch an Strawinsky als Literat interessiert oder untersucht sein freundschaftliches Verhältnis zu dem russischen Pianisten Pierre Souvtchinsky. Auffällig ist ihre Sprache, deren Einfachheit und Klarheit ihre Ausführungen auch einem interessierten fachfremden Publikum zugänglich machen, ohne an akademischer Stringenz einzubüßen. Die umfangreiche Durchsicht und Miteinbeziehung von exklusiven Archivmaterialien wirkt sich zudem als Bereicherung für die Monografie aus, da sie stellenweise bislang völlig unbekannte Informationen ans Tageslicht befördert.
So wie viele andere Komponisten publizierte auch Igor Strawinsky musiktheoretische Texte, die Savenko auf ihre Authentizität prüft. Denn der russische Komponist verfasste seine Hauptschriften Chroniques de ma vie und Poétique musicale nicht alleine, sondern «in Team-Arbeit». Der Autorin gelingt es allerdings nachzuweisen, dass «alle wesentlichen Gedanken und Formulierungen der beiden Bücher praktisch mit jenen [übereinstimmen], die in zuvor gegebenen Interviews geäußert wurden». Trotzdem bleibt ein fader Nachgeschmack. Interessant ist auch die ausführliche Analyse von Parallelen zwischen Strawinskys musiktheoretischen Reflexionen und den philosophischen Schriften Paul Valérys, in denen der Komponist «gedankliche Unterstützung für seine Praxis der neoklassizistischen Stilvariationen [fand]».
Das Kapitel «Die Folklore» dokumentiert Strawinskys Umgang mit der russischen Volksmusik, die der Komponist so geschickt in seine
Stücke einzuweben verstand, dass es «nicht immer möglich ist, präzise die Quellen zu bestimmen». Diese musikalische Camouflage-Arbeit versucht Savenko im Folgenden zu enttarnen, stößt aber immer wieder an Grenzen, ist auf Spekulationen angewiesen, die sie mit ausführlichen Partitur-Analysen anreichert. Eine interessante Spurensuche. Es scheint, als ähnele Strawinskys spezielle Arbeitsweise der poetischen Zitiertechnik des Dichters Alexander Puschkin. Bis heute sei es nicht gelungen, jene Verse genau zu benennen, welche Puschkin als Nachahmung von Volksliedtexten geschaffen habe, schreibt Savenko.
Weitere Themenbereiche des umfangreichen Buchs gehen akribisch auf Stil- und Gattungsfragen in Strawinskys kompositorischer Arbeit ein. Immer wieder überrascht Savenko mit interessanten Thesen, die das Erscheinungsbild, die Physiognomie des Komponisten in neuen Koloraturen erstrahlen lassen. Dabei stört es nicht, dass ihre Gedanken bereits vor 13 Jahren auf Russisch publiziert worden sind. Ihre Forschungsarbeit kann auch heute noch neue Denkanstöße geben und wird sicherlich auch zukünftige musikwissenschaftliche Beschäftigungen mit Strawinsky beeinflussen.
Raphael Smarzoch