Sramek, Christoph (Hg)

«im lichtstrom versunken nun sonnenhaft»

Dokumente zum Schaffen des Dresdner Komponisten Jörg Herchet

Verlag/Label: Kamprad, Altenburg 2013, 360 Seiten, zahlr. Abb. und Noten­beispiele
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/03 , Seite 94

Nicht nur das Soli Deo Gloria, das seit 1984 unter allen Werken von Jörg Herchet zu finden ist, ließ diesen philosophisch und theologisch ambitionierten Komponisten, Lehrer und brillanten Musikdenker als einen Solitär und staatsfernen Eremiten in der DDR erscheinen. Wer sich wie er zu einem «uneingeschränkt religiösen Schaffen» bekennt, dessen Mu­sik musste auf dem ästhetisch vermin­ten Territorium des Sozialistischen Realismus exterritorial bleiben, ein Fremd­körper, dem allenfalls der Unsegen repressiver Toleranz eines kulturpolitischen Oktroi zuteil wurde. Dass Herchet dennoch unter der Mentorschaft von Paul Dessau seine künstlerische Heimat finden konnte, hat in den ersten beiden Texten der vorliegenden Dokumentation sei­nen dankbaren Nachhall gefunden – gleichsam eine Hommage an den verehrten Lehrer und Freund, der Herchets Suche nach dem eigenen Ton kritisch und fördernd begleitet hat.
Die über dreißig von Christoph Sramek ausgewählten Texte des Komponisten bilden die geistlichen, ästhetischen, philosophischen, musikalisch-strukturellen und schaffenspsycho­logischen Koordinaten einer Kompositionsästhetik ab, die in einem viertönigen Allintervallakkord ihren konstruktiven Kern hat und der sich Herchets komplexe und zugleich stets einladend-hörsame Klangsprache verdankt. Dabei lassen sich Bach, Bruckner und Webern als trigonometrische Punkte ausmachen, mit denen die eigene reiche Klanglandschaft immer wieder neu vermessen wird. Die mystische «Einheit in der Vielfalt» bei Bach und die «totale Gegenwärtigkeit» in Bruckners musikalischer Zeit sind für Herchet Verweise auf Transzendentes, das auch der eigentliche Gegenstand des Orgelzyklus NA­MEN GOTTES ist und dem Herchet in einer subtilen Deutung von Beethovens Hammerklaviersonate op. 106 nachspürt.
Eine besondere Verweisfunktion kommt in Herchets Reflexionen eigener Werke der Lichtmetapher zu, die dem Buch mit dem Titel gleichsam als Programm eingeschrieben ist. Jörg Milbradt – neben Lydia Weißgerber, Dong-Hak Kim und Jost Luis Galindo Burke einer der weiteren Autoren des Bandes – elaboriert mit dieser Metapher «die poetische Kraft utopischer Vorstellungen» am Beispiel von Franz Schuberts Lied Heliopolis nach Mayrhofer: «Leben im Licht und lichtvolles Handeln» gebe es nur in der Kunst. «Kunst» – das ist für Herchet «eine Harmonie, die parallel zur Natur verläuft», und zugleich ein Vorschein davon, «dass dereinst alles [Verschiedene] in Gott vollkommen geeint sein wird». Arnold Schönbergs Einsicht, dass Kunst keine Antworten gibt, sondern Fragen stellt, die den Menschen zutiefst betreffen, berührt nach Herchet ihr Proprium als existenzielle Erfahrung.
Musik insbesondere vermag aber auch jene Botschaft zu vermitteln, die Jörg Herchet dem verzeihenden «Più docile io sono» der Gräfin in Mozarts Figaro abgelauscht hat – die Hoffnung nämlich, dass der Mensch nicht am Menschen scheitern muss. Summa: Der vorliegende Band vermittelt höchst eindrucksvoll die Begegnung mit einem ganz und gar Eigenen unter den Komponisten unserer Zeit, und er ist zugleich ein material- und facettenreiches Kompendium des Denkens in und über Musik heute.

Peter Becker