Drees, Stefan (Hg.)
Im Spiegel der Zeit
Die Komponistin Unsuk Chin
Unsuk Chin ist koreanische und europäische Komponistin zugleich. Ihre Musik ästhetisch exakt zu verorten, ist jedoch unmöglich. Der koreanischen Kunstmusik kommt in ihren Arbeiten nicht die gleiche essenzielle Bedeutung zu, wie dies beispielsweise für die Werke von Isang Yun gilt. In der europäischen Kunstmusik der Gegenwart wiederum lässt sich die Musik von Unsuk Chin nicht im Sinne einer ästhetischen Ideologie positionieren, trotzdem sie diverse Stilrichtungen, darunter jene des Serialismus, eisern durchdekliniert hat.
Natürlich lassen sich Merkmale in Unsuk Chins Musik benennen, die prinzipiell Rückschlüsse auf das kulturelle Wurzelgeflecht zulassen, in dem die Pianistin und Komponistin ihre musikalische Sozialisation erfahren hat. Geboren wurde sie 1961 in Seoul/ Südkorea. Beide Eltern waren als Laienmusiker aktiv. Andererseits: Prägend für Unsuk Chins kompositorisches Profil sollte letzten Endes das Kompositionsstudium werden, das sie 24-jährig, schon mit einem Abschluss der Universität Seoul in Händen, im Jahr 1985 bei György Ligeti an der Musikhochschule Hamburg aufnahm.
Später wird sie diese drei Jahre in Ligetis Kompositionsklasse als die Zeit ihrer größten persönlichen und künstlerischen Krise beschreiben, als eine harte Schule der Selbstfindung, als Basis für den Erfolg, den sie in den Jahren danach in Frankreich, England, den USA haben wird, seltsamerweise jedoch kaum in Deutschland, wo sie noch immer ansässig ist. Hier wird sie für ihre Arbeit wiederholt mit renommierten Preisen geehrt, doch auf den Programmen der hierzulande bedeutenden Festivals für die Musik der Gegenwart ist ihr Name nicht vertreten. Insofern kommt der vorliegende Band, für den der Musikpublizist Stefan Drees verantwortlich zeichnet, in mehrerer Hinsicht einer Spurensuche gleich.
Einerseits dienen die gesammelten Interviews, Essays (von der Komponistin selbst und anderen) sowie analytischen Originalbeiträge der Annäherung an ein Werk, von dem man am Ende der Lektüre den Eindruck mitnimmt, es zwinge einen nachgerade, dem Begriff des Personalstils eine neue Nuance hinzufügen zu müssen. Andererseits lässt sich anhand dieser Texte auch nachvollziehen, dass Worte bisweilen ein recht stumpfes und vor allem zu grobes Werkzeug sein können, wenn es um die Beschreibung musikalischer Vorgänge und Wirkungen geht. Nicht zuletzt deshalb kommt dem Essay von Gordon Kampe «Farben, Räume, Zauberkästen. Zur Instrumentation im Schaffen von Unsuk Chin» eine zentrale, kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Was in den vorangegangenen Texten, angeordnet im Sinne der Werkchronologie, zur Sprache kommt, schießt in Kampes analytischem Essay zur Quintessenz zusammen, die da heißen könnte: Klang-Farbe ist nicht alles im uvre dieser Komponistin, aber ohne Farbe ist bei ihr alles nichts, wobei der Begriff der Farbe bei Unsuk Chin über den der ausschließlich europäisch geprägten Kunstmusik hinausgeht. Diesem Phänomen spürt die Textsammlung nach, ergänzt durch einen detaillierten, weiterführenden Anmerkungsapparat, ein ausführliches Werkverzeichnis nebst Diskografie sowie eine Reihe gut ausgewählter Notenbeispiele.
Annette Eckerle