Gagel, Reinhard
Improvisation als soziale Kunst
Überlegungen zum künstlerischen und didaktischen Umgang mit improvisatorischer Kreativität
Reinhard Gagel ist Pädagoge und improvisierender Pianist. Seit vielen Jahren integriert er die (freie) Improvisation in seinen Klavierunterricht und lehrt Ensembleimprovisation. Diese Erfahrungen und die stete Reflexion über das Phänomen des (freien) Improvisierens hat er zum Thema seiner Dissertation gemacht. Sie enthält im Wesentlichen zwei große Abschnitte: zum einen den Versuch, Entstehung, Prozesse und Wechselwirkungen des Improvisierens zu beschreiben; zum anderen entwickelt er Modelle und Möglichkeiten, Improvisation zu unterrichten und Proben anzuleiten. Dass der Unterrichtsteil hier nicht isoliert steht, sondern an voranstehende theoretische Überlegungen gekoppelt ist, ist eine der Stärken dieser Arbeit, die damit dem Klischee von der Improvisation im Unterricht als «Vorstufe» zur Interpretation oder als Anfängerunterricht wirkungsvoll entgegensteht.
Gagel geht von einem «Betriebssystem Improvisation» aus, das, der Systemtheorie entsprechend, selbstorganisatorisch, also in steter Wechselwirkung und Interaktion der Mitspielenden und der jeweils gespielten Klänge, erzeugt und entwickelt wird. Gedanken aus der Emergenztheorie liefern Erklärungen für das improvisierende Ermöglichen von «Unvorhergesehenem», das zu unterscheiden ist von Zufall und Beliebigkeit. Weiterhin erläutert Gagel sieben Komponenten, die Improvisation ermöglichen und sich in steter Interaktion und gegenseitiger Abhängigkeit befinden: darunter die jeweilige Situation und der Umgang mit musikalischem Material, gestisches und körperliches (mithin nicht geist/ «kopf»-gesteuertes) Spiel oder die so genannte Präsenz der Spielenden. Zusammenfassend werden Kriterien der Improvisations-Kompetenz gelistet. Wertkriterien allerdings lassen sich, so Gagel, nicht allgemein bestimmen, sondern können nur von den Improvisierenden selbst und subjektiv genannt werden. Aber impliziert nicht die Idee einer Kunst qua definitionem auch intersubjektiv gültige oder zumindest diskutierbare ästhetische und damit Wertkriterien, nicht nur solche des Prozessverlaufs? Eine der kleinen Ungereimtheiten und Wermutstropfen, die beim genaueren Lesen auftauchen. Um noch einen weiteren herauszugreifen: So manche zentralen Aussagen grenzen Improvisation von Interpretation nicht trennscharf ab, sondern übernehmen oft verwendete Postulate unhinterfragt bzw. nicht konkretisiert. Durch (unabsichtlich) wertende Begrifflichkeit benennt Gagel klare Hierarchien zwischen Improvisation und Interpretation / Komposition, so dass der Eindruck entstehen könnte, das Klischee einer höherstehenden Form des Musikgestaltens würde, nur unter umgekehrten Vorzeichen, beibehalten.
Dass gelegentlich auch Begriffe aus verschiedenen Theorien kurz angerissen werden, ohne dass eine wirkliche Notwendigkeit im Erläuterungsprozess bestünde, mag einerseits der Tatsache der Qualifikationsarbeit geschuldet sein, zeugt aber andererseits vom Bestreben des Autors, seinen Blick auf den Prozess der Improvisation und seine Gedanken über das Nachdenken über Improvisation weit schweifen zu lassen. Fazit: Kleinen Ungereimtheiten zum Trotz die schließlich auch das Diskutieren und vertiefende Nachdenken anstoßen Reinhard Gagel hat einen weiterführenden Beitrag zur Vermittlung von Improvisation geliefert.
Nina Polaschegg