Holliger, Heinz

Induuchlen

Verlag/Label: ECM New Series 2201
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/05 , Seite 76

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Induuchlen: der seltsam verrätselt erscheinende CD-Titel erweist sich als Wort aus dem Brienzerdeutsch und steht für «Eindunkeln». Der aus der Schweiz stammende Komponist Heinz Holliger hat sich in der jüngsten Vergangenheit verstärkt Dichtungen seiner Heimat zugewandt, die in lokalen Idiomen sprechen, so unter anderem den Briensertiitsch Väärsa von Albert Streich, aus denen der Komponist vier Gedichte auswählte und seinem In­duuchlen betitelten Zyklus zugrunde legte.
Schön ist es, zunächst in einem kurzen Ausschnitt eine Dokumentaraufnahme des Dichters als kernigen Rezitator hören zu können. Denn die anschließenden Vertonungen Holligers für Countertenor (mit Baritonlage) und Naturhorn in F und Es sind keineswegs in einer Art «Volkston» gehalten, auch wenn die beiden Interpreten virtuell ein Duo aus Jodler und Alphornbläser verkörpern. Doch sind die Rollen nicht streng getrennt: Holliger erreicht eine raffinierte Verschmelzung von Instrumental- und Vokalklang, indem der Hornist häufig in sein Instrument hineinsingen muss, während umgekehrt die Stimme des Counter­tenors durch wechselnde Färbungen und Weiten des Registers nach unten im Strohbassgesang nahezu instrumentale Qualitäten entwickelt.
Unerlässlich für den Hörer, der den Gehalt der zugrunde liegenden Dichtungen verstehen will, sind die im Booklet enthaltenen hochdeutschen Übertragungen der Mundartgedichte. Solche Übersetzungen finden sich gleichfalls für jene zehn Gedichte von Anna Maria Bacher in Pumatter Titsch, die Holliger für seinen Zyk­lus Puneigä auswählte und die man wiederum vorab durch die Autorin vorgetragen hören kann.
Wüsste man nicht, dass Holliger zunächst die Singstimme entwarf und dieser erst zwei Jahre später den Instrumentalpart hinzufügte, so würde man dies vom Eindruck der Endgestalt her nicht vermuten. Denn die Sop­ran­partie ist völlig integriert in einen weit gespannten Klangraum der Instrumente, ja Letztere scheinen sogar zu dominieren, und das nicht nur in eigenständigen Zwischenspielen.
Verankerung im Heimatboden signalisieren diese wenn auch hoch­artifiziell gestalteten Liedzyklen, von der Weltläufigkeit des Musikers Holliger dagegen zeugen die beiden übrigen auf der vorliegenden CD eingespielten Werke. Die Toronto-Exercises für Flöte, Klarinette, Violine, Harfe und Marimbafon, während eines Aufenthalts in Kanada entstanden, sind eine Art moderner Etüden im Ensemblespiel: Für die ausführenden Musiker bedeuten sie eine Schule des Aufeinanderhörens und -reagierens, wobei es darum geht, Schwärme von Tonpunkten aufeinander abzustimmen, kurze Einzelphrasen zu einem linearen Kontinuum zusammenzusetzen oder eine stehende Klangfläche subtil umzufärben. Ein ähnlich virtuoses Übungsstück ist Ma’mounia, 2002 für den Concours de Genève entstanden: Auch hier geht es letztlich um kammermusikalische Interaktion der Ausführenden und nicht um einen Egotrip des Schlagzeugsolisten, dessen Spiel stets eng mit den Parts der übrigen fünf Musiker vernetzt ist.
Gerhard Dietel