Hiekel, Jörn Peter (Hg.)

Ins Offene? Neue Musik und Natur

(= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 54)

Verlag/Label: Schott Music, Mainz 2014, 213 Seiten, 34,95 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 93

«Komm! Ins Offene, Freund!» Mit diesem doppelten Anruf begann Friedrich Hölderlin sein Gedicht Der Gang aufs Land. Die letztjährige Jahrestagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung wandelte diesen doppelten Anruf in die einfache Frage: «Ins Offene?» Wobei der zweite Teil der Überschrift Neue Musik und Natur bereits als verkürzte Antwort auf die Frage verstanden werden kann. Denn was auf jeden Fall deutlich wird bei den in diesem Band versammelten Texten und Vorträgen, ist, dass die Neue Musik auch nach gut einhundert Jahren, die ihre vielfältige Geschichte nunmehr andauert, sich noch immer auf dem Weg «ins Offene» befindet. Dieser Weg ins Offene war immer auch ein Weg «in die Natur». «Reden wir nicht mehr von Kunst, reden wir von Na­tur!», deklamierte Anton Webern zu Beginn der 1930er Jahre, und heute schreibt Olga Neuwirth: «Für mich ist die Natur […] etwas Verschwundenes, ein irgendwie verklungenes Wort». Daran ist abzulesen, dass, wenn im Zusammenhang mit Neuer Mu­sik von «Natur» die Rede ist, ein Vielfältiges, Facettenreiches, Widersprüchliches gemeint ist. Das verklärte Idyll war zu keiner Zeit Gegenstand der Neuen Musik.
Im ersten Teil des Buches finden sich zum einen das Thema umgreifende Beiträge wie die Einführung von Herausgeber Jörn Peter Hiekel oder der historische Überblick von Rainer Nonnenmann. Daneben aber auch sehr spezielle wie derjenige von Wolfgang Welsch über den «animalischen Ursprung von Ästhetik und Musikantentum». Anknüpfend an Charles Darwin zeigt Welsch auf, wie ästhetisches Empfinden im Tierreich seinen Ausgang nimmt. Dabei wird klar, dass man statt von «Natur» mitunter besser von «Biologie» spräche, nicht zuletzt um wissenschaftlich klarere Aussagen treffen zu können. Die Musikwissenschaft des 21. Jahrhunderts sollte an diesem Punkt den verunklärenden Begriff «Natur» («Natur» ohne «Wissenschaft») soweit möglich ersetzen durch die jeweilige konkrete Naturwissenschaft, um die unselige Trennung von Geistes- und Naturwissenschaft zu überwinden. Ein weiterer sehr spezieller Beitrag ist der ethnologische Aufsatz von Matthias Lewy zu «Konzeptionen zu Klang, Körper und Seele in Amazonien» (weitere stammen von Helga de la Motte-Haber, Wolfgang Lessing und Ursula Brandstätter.)
Der zweite Teil des Buches ist dem konkreten Schaffen zweier zeitgenössischer Komponisten gewidmet: Toshio Hosokawa und Olga Neuwirth. In jeweils zwei Aufsätzen (von Walter-Wolfgang Sparrer und Elena Ungeheuer bzw. Stefan Drees und Wolfgang Rüdiger) wird deren Werk im Allgemeinen wie auch durch konkrete Werkanalysen beleuchtet.
Die Auswahl gerade dieser beiden Komponisten ist schlüssig. In der Verschiedenheit ihrer Klangwelten wie auch ihrer Naturauffassungen und Naturmiteinbeziehungen in ihr Werk wird ein denkbar weiter Bo­gen gespannt. Während Hosokawa trotz seiner europäischen Präsenz die Nähe zum spirituellen Naturverständnis seiner fernöstlichen Heimat sucht und fördert, steht Neuwirth in der nüchternen, dabei aber nicht weniger kraftvollen europäischen Tradition.

Thomas M. Maier