Nono, Luigi

Intolleranza 1960

Verlag/Label: Dreyer Gaido CD 21030
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/03 , Seite 82

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 3

Zwölf Jahre alt ist dieser an zwei Abenden entstandene Live-Mitschnitt von Luigi Nonos Intolleranza 1960: Er dokumentiert eine Aufführung am Opernhaus Bremen und führt den Hörer damit in eine Zeit zurück, in der man sich für eine angemessene Einstudierung dieser anspruchsvollen «szenischen Aktion», Nonos erstem Bühnenwerk, noch 147 Proben erlauben konnte – ein langwieriger Realisierungsprozess, den der Dirigent Gabriel Feltz in ei­nem der Bookletbeiträge ausführlich schildert.
Warum man indes so lange mit der Veröffentlichung gewartet hat, lässt sich nur mutmaßen; möglicherweise war es die relative Nähe zur 1995 veröffentlichten Referenzeinspielung der Produktion an der Staatsoper Stuttgart unter Leitung von Bernhard Kontarsky, die nun ihrerseits seit 2010 als Wiederveröffentlichung im Niedrigpreissektor vorliegt. Wie dem auch sei: Der Mitschnitt, von Radio Bremen betreut, erweist sich als überraschend vielfältig und kann es nicht nur in klanglicher Hinsicht mit der älteren Produktion aufnehmen. Dies liegt zum einen daran, dass das in Bezug auf die Beweglichkeit von Klängen und Klangmassen ständig veränderte Miteinander aller Beteiligten extrem plastisch eingefangen wurde, hat aber zum anderen auch mit dem hohen Niveau der Interpretation zu tun.
So sind die Bremer Philharmoniker besonders überzeugend, wenn sie mit klanglicher Schärfe die blockhaften Einwürfe modellieren oder die feinen Bewegungsverläufe der orchestralen Texturen auf der Mikroebene hörbar machen. Chor und Extrachor wiederum agieren nicht nur mit großer Sicherheit, sondern setzen dem Orchester auch einen in sich außerordentlich differenzierungsfähigen Chorklang gegenüber. Sehr deutlich wird hier zu­dem der tableauartige Charakter der Musik, der sich, in der dramaturgischen Struktur von Nonos Werk begründet, als Aneinanderreihung unterschiedlich gestalteter und individuell ausgestalteter «Klangbilder» erweist. Ihm sind jeweils die Solostimmen als weiteres Mittel der Individualisierung hinzugefügt: Überraschend gut ist hier die Sopranistin Judy Berry als Gefährtin des Gastarbeiters, dessen Tenorpart in Wolfgang Neumanns Wiedergabe gelegentlich ein we­nig schneidend wirkt. Dass die Solostimmen in einigen Passagen stärker in den Vordergrund rücken, an anderen Stellen hingegen klanglich weiter zurückgenommen sind, dürfte mit Johann Kresniks szenischer Umsetzung des Werks zusammenhängen, über die sich jedoch weder anhand des Booklets noch anhand des Mitschnitts irgendwelche Aussagen treffen lassen.
Dass auch in dieser neuen Aufnahme Nonos Intolleranza 1960 nicht in der italienischen Originalsprache, sondern – der ursprünglichen Partitur­edition entsprechend – in der gezähmten deutschsprachigen Übersetzung von Alfred Andersch erklingt, war anhand ihres Produktionsdatums nicht anders zu erwarten. Als Hilfestellung für all jene Hörer, die mit dem Werk nicht vertraut sind, hätte man sich aber dennoch im Booklet einen Abdruck des Librettos oder zumindest eine inhalt­liche Skizze der einzelnen Szenen gewünscht.

Stefan Drees