Kishino, Malika

Irisation

Verlag/Label: Wergo WER 64112
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 92

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 5

Aus der Stille erhebt sich ein sanf­tes Rauschen, das im Moment sei­nes Hörbarwerdens sofort klangliche Wandlungen erfährt, zu rattern und pulsieren beginnt, bis sich einzelne Einsätze und Tonhöhen abheben. Rayons Crépusculaires entfaltet sich als weit gestreckter Spannungsbogen wie ein einziger Naturlaut aus fließenden Kontinuen zwischen Ton, Geräusch, instrumentalen und live-elektronisch transformierten Klängen. Die meisten Werke von Malika Kishino verdanken sich Eindrücken von Natur, Pflanzen, Wetter, Licht und Wasser, deren augenblickliches Zusammenspiel der CD-Titel irisation benennt. Gleichwohl täuscht die Naturhaftigkeit dieser Musik nicht über die hier waltende instrumen­tatorische Kunst und sensible Zeitorganisation hinweg. Die ebenso gespannten wie ausgewogenen Proportionen von Akzenten und Flächen, Energetik, Raum und Zeit folgen erklärtermaßen Schönheitsidealen traditioneller japanischer Kunst.
Das zweite Stück des Kammer­zyklus Monochromer Garten der 1971 in Kyoto geborenen Komponistin wurde vom nächtlichen Anblick des verschneiten Gartens ihres Elternhauses inspiriert, dessen schwarze Zweige sich als schroffe Akzente und Geräuschklänge hören lassen, umgeben vom Pulverschnee weich wattierter Liegetöne. Obwohl monochrom mit Bassklarinette, Baritonsaxofon und Posaune besetzt, entlockt die Tochter eines buddhistischen Tempelvorstehers dem Trio basso eine erstaunliche Fülle an Farben und Registern. In ökologischem Gleichgewicht halten sich auch in Sensitive Chaos
perkussive Aktionen mit sphärisch schwebenden Klängen von nahezu unverstärkter E-Gitarre, gedämpften Blechbläsern und wie getupft gespieltem Klavier. Der Verlauf des Septetts ist dem Wasserkreislauf von Verdunstung und Niederschlag nach­gebildet, wobei die verschiedenen Aggregatzustände des Elements als tropfende und fließende Klänge sinnfällig werden. Der ausgezeichneten Einspielung durch das Ensemble ascolta stehen die anderen Aufnahmen der zwischen 2001 und 2011 entstandenen Werke in nichts nach.
Das früheste Werk Du firmament schrieb Kishino 2001/02 noch während ihres Studiums bei Robert Pascal am Conservatoire in Lyon. Zuvor hatte sie in Kyoto Jura und ab 1999 in Paris Komposition bei Yoshihisa Taira studiert. Wie dieses erste Orchesterwerk zeigt ihre spätere Mu­sik eine Nähe zu französischer Clarté und Brillanz. Der Nuancen- und Farbreichtum ihrer Musik ist sinnlich und virtuos sowie strukturell an Gérard Griseys Vergleich des Werdens und Vergehens der Klänge
mit lebenden Zellen orientiert. Das jüngste Werk Prayer/Inori für 16-stim­migen gemischten Chor a cappella entstand 2011 nach der atomaren Katastrophe von Fukushima. Die Musik steigert sich in zwei Wellen von bloßen Atemlauten zu expressiven Ausbrüchen, um erneut in Lautlosigkeit und schicksalsergebene Ru­he zurückzusinken: Ausdruck sprachlosen Leids.

Rainer Nonnenmann