Stenzl, Jürg

Jean-Luc Godard – musicien

Die Musik in den Filmen von Jean-Luc Godard

Verlag/Label: edition text + kritik, München 2010
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/04 , Seite 100

Kaum hat der Buchtitel die Behauptung aufgestellt, der französisch-schweizerische Filmregisseur sei ein Musiker, wird sie im Vorwort widerlegt, um dann auf 460 Seiten desto materialreicher untermauert zu werden. Tatsächlich hat Jean-Luc Godard im­mer wieder behauptet, er verstünde nichts von Musik. Im Gegensatz zu manch anderem Regisseur spielt er kein Instrument, komponiert nicht und besucht keine Konzerte zeitgenössischer Musik. Und doch kann man Jürg Stenzl zu seinen ergiebigen archäologischen Grabungen nach der Musik in den Filmen des 1930 geborenen Kino-Erneuerers nur gratulieren.
Seit À Bout de Souffle (Außer Atem) von 1959 hat Godard in Abgrenzung zum Hollywood-Kino filmische Konventionen systematisch infrage gestellt, insbesondere das Zusammenwirken von Bild, Sprache, Technik (Schnitt, Montage, Einstellung, Format), Ton und Musik, was bald als «Nouvelle Vague» bezeichnet wurde. Er begriff «Cinéma» als Polyphonie unterschiedlicher Gestaltungsmittel, die in je eigener Weise autonom behandelt und sprachfähig werden können. In seinen Filmen spielen daher eigens zu diesem Zweck komponierte oder präexistente Musiken aus Chanson, Jazz, Klassik und Gegenwart nie nur eine sekundäre Rolle im Sinne der emotionalisierenden Verstärkung von Bild und Sprache wie bei herkömmlicher Filmmusik.
Eben hier setzt Stenzl ein. Seine profunde Untersuchung folgt der üblichen Einteilung von Godards Schaffensperioden und untersucht chronologisch dessen Filme auf die hier zugespielte oder diegetisch eingesetzte Musik, also solche, die von den Akteuren im Film selbst gehört und gesehen wird. Die mehr als sechzig Unterkapitel bieten kurze Einführungen zu Idee und Entstehung des jeweiligen Films sowie Analysen der eingesetzten Kompositionen und deren spezifischer Aussage im filmischen Kontext. Überblickslisten identifizieren die verwendete Musik, messen ihre Dauer und ordnen sie Filmsequenzen zu. Vereinzelt sind Notenbeispiele abgedruckt. Auf die Abbildung von Filmausschnitten wurde dagegen verzichtet.
Ein ausgewiesener «Musikfilm» ist Prénom Carmen, der die Handlung von Bizets berühmter Oper nachzeichnet, aber Streichquartette von Beethoven hören und sehen lässt. Eine Schlüsselrolle spielt Musik auch in Passion, For Ever Mozart und Nôtre Musique. Von extremer stilistischer und historischer Bandbreite ist die Musik im monumentalen viereinhalbstündigen Projekt Histoire(s) du Cinéma, in dem Godard Filmgeschichte als Film vorführt. Das Gleiche gilt für die 93 einmontierten Musiktitel zwischen Wohltemperiertem Klavier und Sacre, Wagner und Webern, Leonard Cohen und Tom Waits. Stenzl zeichnet deren filmische Konfiguration nach, um aufzuzeigen, wie Godard sowohl die Film- als auch die Musikgeschichte in untrennbarer Verbindung mit der politischen und sozialen Geschichte des 20. Jahrhunderts versteht.
Stenzls Studie leistet Pionier- und Grundlagenarbeit, nicht zuletzt dank umfangreicher Filmo-, Disko- und Bibliografien sowie eines zwanzig­seitigen Registers zu Filmtiteln, Regisseuren und der in Godards Filmen verwendeten Komponisten samt ihrer Werke, einschließlich Textincipits bei politischen Liedern und Chansons. Eindrücklicher lässt sich die These des Buchtitels nicht belegen: Godard ist ein Musiker!

Rainer Nonnenmann