Ferrari, Luc
JETZT oder wahrscheinlich ist dies mein Alltag, in der Verwirrung der Orte und der Augenblicke
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5
Der Aufnahmezustand war für Luc Ferrari kein Ausnahmezustand. Er nahm auf, was ihm vors Mikrofon kam. Nach künstlerischer Ranghöhe fragte er nicht; das Poetische oder auch Prosaische ergab sich wie von selbst. Geradezu lässig schüttelte der 1929 in Paris Geborene und 2005 in Arezzo Verstorbene also seine Kunst aus dem Ärmel. Mit Witz, mit Musik, mit Soundcollagen, mit musikalischen Landschaften oder einfach mit Stimmen, deren Klang so viel mehr erzählen kann als geschriebene Wörter oder Sätze.
1982 entstand Luc Ferraris Hörspiel JETZT oder wahrscheinlich ist dies mein Alltag, in der Verwirrung der Orte und der Augenblicke. Mehr als zwei Stunden dauert es und bringt diverseste Geschichten zu Gehör. In der Art eines Kettenrondos stellt Ferrari teils in verwirrender Überlagerung Situationen am Frankfurter Flughafen dar, eine Autofahrt mit einem Redakteur oder bilinguale Gespräche mit seiner langjährigen deutschen Wegbegleiterin Brunhild Meyer Ferrari. All das kommt mit einer faszinierenden französischen Eleganz daher, mit einer vitalen Selbstverständlichkeit, die ihresgleichen sucht. In dem stark autobiogafisch gefärbten JETZT haben sich Ferraris langjährige Erfahrungen als Komponist und Hörspielautor aufs Glücklichste vereint (Passagen älterer Werke, unter anderem von Presque rien No. 1 von 1967 sind in JETZT integriert). Wunderbar stimmig wirken die Zeitproportionen von Musik und O-Ton Passagen, formal sicher durchstrukturiert der Ablauf, ohne die für Ferrari essentielle Schnörkellosigkeit und Welthaltigkeit zu verlieren.
Die Produktion aus dem Hause des Zentrums für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe bietet nicht nur eines der Schlüsselwerke des Hörspiels, sondern zudem eine künstlerisch-aktualisierende Auseinandersetzung mit Ferrari und JETZT. Tiziana Bertoncini, Antje Vowinckel, Frank Niehusmann, David Fenech und Neele Hülcker haben das überbordende Material neu gesichtet, arrangiert und bearbeitet. Herausgekommen sind komprimierte Stückchen, deren digitale Hochglanz-Prozeduren nicht zu Ferrari passen und auch nicht die Qualität von JETZT erreichen. Besonderen dokumentarischen Wert haben aber drei Tracks, die von Ferraris Anschauungen über das Hörspiel generell, aber speziell über JETZT zeugen. Die aus dem Jahr 2000 stammende «Conférence» enthält auch höchst aktuelle Ausführungen über den Zeitdruck innerhalb der Rundfunk-Anstalten. So endet die umfangreiche, drei CDs umfassende Produktion mit dem Fragezeichen, ob JETZT unter heutigen Bedingungen überhaupt noch möglich wäre.
Torsten Möller