Johannes Kalitzke / Luc Ferrari
Johannes Kalitzke: Zeitkapsel
Luc Ferrari: Histoire du Plaisir et de la Désolation. Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Johannes Kalitzke
“Beim Konzert der BR-Reihe «musica viva» im November 2023 spielte das Symphonieorchester des BR unter Leitung von Johannes Kalitzke zwei apokalyptisch wirkende Werke, deren Live-Mitschnitte nun das sendereigene Label herausgebracht hat.” (Rainer Nonnenmann)
Die gegenwärtigen Kriege und Krisen vermitteln das Lebensgefühl einer Endzeit, das auch Musik und Veranstaltungen erfasst. Beim Konzert der BR-Reihe «musica viva» im November 2023 spielte das Symphonieorchester des BR unter Leitung von Johannes Kalitzke zwei apokalyptisch wirkende Werke, deren Live-Mitschnitte nun das sendereigene Label herausgebracht hat.
Kalitzkes uraufgeführtes Zeitkapsel – Totentanz beginnt mit richtungslos tapsenden Schlaginstrumenten, Atemgeräuschen und klagenden Bläsern. Mit einem Mal ist das Orchester zur unbändigen Furie entfacht: Streicher hetzen, Holzbläser schreien, Blechbläser speien Fanfaren, Militärtrommeln rasseln und Große Trommeln stampfen, als gelte es wie beim «Dies irae» der lateinischen Totenmesse die Gräber zu sprengen. Auf den ersten Schrecken folgt lähmende Ruhe vor neuerlichem Sturm. Im vierten Satz suggerieren munter pulsierende Pizzikati freudige Heiter- und Lauterkeit. Doch der Tanz eskaliert alsbald zu knallenden Peitschenschlägen und metallischem Hämmern. Statt lustiger Landleute toben Ausgeburten der Hölle, auch dank eines Samplers mit bizarr fauchenden, röhrenden, grunzenden instrumental-elektronischen Chimären sowie konkreten Klängen von Fabriklärm, Flammenwerfern, verkapselten musikalischen Fundstücken und Menschenstimmen vergangener Zeiten. Gespenstische Schatten und Lemuren huschen durch dystopische Landschaft. Die sieben Sätze erinnern an das Buch mit sieben Siegeln samt der sieben Posaunen und sieben Schalen voll Unheil, Tod und Verderben, die die «Offenbarung des Johannes (Kalitzke)» über Welt und Menschheit ergießt.
In Luc Ferraris 1982 uraufgeführtem Orchesterwerk Histoire du Plaisir et de la Désolation wird der Tag des Jüngsten Gerichts zum säkularen Bacchanale voll schäumender Lust und trostloser Ernüchterung. Im ersten Satz «Harmonie du Diable» dröhnen Bässe und Posaunen wie beim «Tuba mirum» unentwegt mit demselben tiefen Tritonus. Zu diesem «Diabolo in musica» kreischen Streicher und klappern Trommeln, die dann den temporeichen zweiten Satz «Plaisir – Désir» durchpulsen. Statt ins Inferno führt die sogartige Kreuzung aus Sacre und Bolero auf den Tanzplatz eines fantastischen Rituals. Im wirbelnden Reigen zeigen sich unvermutet versprengte Zitate von Volkslied, Tänzen, Orientalismen. Die wilde Meute weicht für kurze Momente zurück und gibt den Erscheinungen Raum für kleine Soli, um anschließend wieder umso schneller zu kreisen. Endlich erreicht die Menge gemeinsam den Höhepunkt kollektiver Vereinigung und Ekstase, um rauschhaft zu verglühen. Der dritte Satz zeigt den Morgen danach. In bukolische Ruhe brechen erneut düstere Fragmente der nächtlichen Orgie, die sich hartnäckig festbeißen und zu getriebeartig rotierenden Kopfschmerzen verdichten. Beim Hören wirkt diese brillant gespielte Musik ebenso rätselhaft wie physisch und assoziativ: aufrüttelnd, euphorisierend, berauschend, ernüchternd.
Rainer Nonnenmann