Weinberger, Jaromir

Kammer- und Orgelmusik

Verlag/Label: Deutschlandfunk / Gideon Boss Musikproduktion gb 005
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/03 , Seite 89

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Es fällt heute schwer, sich den musikalischen Reichtum der Tschechoslowakei in den 1920er Jahren vorzustellen. Tschechische Komponisten hatten nicht nur seit Smetana und Dvor?ák auf volks­musikalische Motive zurückgegriffen, es gab auch nicht wenige Komponisten, die selbst mit populären Genres aufgewachsen waren. Wenn einer nicht zu den Avantgardisten gehörte, noch dazu jüdischer Herkunft war, im «Dritten Reich» fliehen musste und schließlich seinem Leben im Exil deprimiert ein Ende setzte wie Jaromir Weinberger, sind alle Voraussetzungen gegeben, dass sein Werk in Vergessenheit gerät. Auch wenn er mit der Oper Schwanda, der Dudelsackpfeifer 1926 bereits einmal einen großen Erfolg gefeiert hatte. Es ist Yuval Shakeds Verdienst, Weinbergers Kammer- und Orgelmusik mit der vorliegenden CD wieder zugänglich zu machen.
Weinbergers 1929 geschriebene sechs böhmische Lieder und Tänze stammen ganz aus der volksmusikalischen Tradition. Sie sind keine Aneignung der Volksmusik durch die Hochkultur, sondern von einem Kompo­nisten geschrieben, der selbst ganz in der Volksmusik zu Hause ist, diese aber durch zahlreiche Modulationen, Rhythmus-, Tempo- und Stimmungswechsel und eine virtuose Violintechnik bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten erweitert. Die vorliegende Interpretation von Asaf und Efrat Levy wirkt insofern viel zu getragen und mit Bedeutung überladen. Zwar ist gleich der erste Titel Rubato überschrieben, aber eine nonchalantere Spielweise im ursprünglichen Sinn des Begriffs, der ein streng eingehaltenes rhythmisches Gerüst voraussetzt, hätte den Stücken gut getan.
Auf höchst eigenständige Weise nähert sich Weinbergers erste Komposition nach seiner Emigration in die USA der neuen Heimat: Ten Characteristic Solos ist ein typisch amerikanischer Titel (etwa wie Sidney Bechets Characteristic Blues), den der Komponist jedoch in zehn Charakterstücke für die ungewöhnliche Besetzung von kleiner Trommel mit Klavierbegleitung umdeutet. Es sind bildhafte Inventionen, die Glockenklänge, ungleichmäßige Schritte eines Hahns, tschechische und amerikanische Elemente einschließen und im Schlusssatz «The Drummer of Liberty» mit einem Doppelzitat der Marseillaise und des Star Spangled Banner enden.
Eine ganz andere Seite des Komponisten bringt die zweite CD zum Vorschein, die der Orgelmusik Weinbergers gewidmet ist. In seinen 1954 geschriebenen Dedications und den zwei Jahre späteren Meditations geht Weinberger in freier Tonalität mit zahlreichen chromatischen Wendungen, Mehrklängen und Dissonanzen über Max Reger, bei dem er in dessen letztem Lebensjahr 1915/16 in Leipzig studiert hatte, hinaus. Das von Gerhard Weinberger (der übrigens nicht mit dem Komponisten verwandt ist) in Paderborn vielleicht erstmals auf Kirchenorgel eingespielte Werk – die Partitur ist für Hammondorgel registriert – nimmt in der modernen Orgel-Literatur einen eigenständigen Platz ein. Demgegenüber wirkt der 1940 geschriebene Psalm 150 für Sopranstimme und Orgel eher wieder harmlos.

Dietrich Heißenbüttel