Weinberg, Mieczyslaw

Kammermusik

Verlag/Label: ECM New Series 2368/69, 2 CDs
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/04 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Während die großen Tonkünstler seiner Generation in der UdSSR seine Meisterschaft beizeiten erkannten, nahm ihn die übrige Welt eigentlich erst nach seinem Tod im Jahr 1996 wahr. Neben einzelnen CD-Veröffentlichungen ist die wachsende Reputation des polnisch-jüdischen Emi­granten Mieczyslaw Weinberg vor allem der Monografie Auf der Suche nach Freiheit des Engländers David Fanning zu danken.
Die vorliegende Edition umspannt dreißig Schaffensjahre: vom «annus horribilis» 1948, in dem Weinbergs Schwiegervater ermordet wurde und die Verbandszeitschrift Sowjetskaja mu­sika ihm trockene Linearität, harmonische Schroffheit und strangulierte Melodik vorwarf, bis 1979, als der Konflikt zwischen offizieller Kunstdoktrin und eigener künstlerischer Notwendigkeit ausgestanden war und Weinberg in seinem Gastland Anerkennung gefunden hatte. Um als Komponist zu überleben, musste er sich – noch in Stalins Todesjahr inhaftiert – der Forderung nach «hörerfreundlicher Melodik» beugen. Wo­bei er allerdings, wie David Fanning im genannten Buch und Wolfgang Sandner im Booklet gleichlautend beteuern, nicht in Trivialität verfiel.
Wer Weinbergs Concertino op. 42 von 1948 vorurteilsfrei hört, wird Sandner Recht geben, wenn er auf den «nahezu gespenstischen Charakter» des dritten Satzes hinweist (der ihn an Sibelius’ Valse triste erinnert), während Fanning das Stück quasi als Handgelenksübung für das bedeutendere Cellokonzert abtut. Die insistierende Rhythmik Kremers und seiner Getreuen würde ihn womöglich umstimmen. Waren damals in Russland doch die Höllenmächte los.
Die noch in der Symphonie Nr. 10 von 1968 rumoren, von Rudolf Bar­shai und seinem Kammerorchester in Auftrag gegeben und uraufgeführt – zu der Zeit, als sowjetische Panzer den «Prager Frühling» niederwalzten. In der aleatorisch «losgelassenen» Burlesque glaubt man Bulgakows Teufel samt Gehilfen zu vernehmen, die Moskau mit Spuk und Satansball heimsuchen. Diese Streichersymphonie ist Weinbergs avancierteste Komposition bis dahin. Im «Pastorale» (2. Satz) arbeitet er mit Zwölftonreihen ähnlich wie Alban Berg im Violinkonzert. Wer die kühnen Klangballungen und dynamischen Aufwallungen, die «Glissando-Orgien», besessenen Ostinati und vertrackten Rhythmen mit der Kremerata Baltica erlebt, begreift die Bewunderung, die Schostakowitsch dem Werk entgegenbrachte.
Von den drei Kammermusiken, die Kremer & Friends ergänzend darbieten, ist die Sonate Nr. 3 für Violine solo op. 126 von 1978 zweifellos die bedeutendste. Kremer zögert nicht, sie Bartóks Solosonate an die Seite zu stellen. Aus dem durchkomponierten, fahl ausklingenden Stück, das Weinberg dem Andenken seines Vaters widmete, hört er gar ein lebensgeschichtliches «Programm» heraus. Einem Doppelporträt der (im Arbeitslager umgekommenen) Eltern – ruheloser Vater, besinnliche Mutter – folgt demnach ein fünfteiliges Selbstporträt: beschwingte Kindheit, «Übergangskadenz» mit heiklen Doppelgriffen, panische Flucht (von Warschau über Minsk bis Taschkent), Erinnerungen des Einsamen, «Fantastischer Tanz / Dialog mit der Ewigkeit».

Lutz Lesle