Kagel, Mauricio

Kantrimiusik

Pastorale für Stimmen und Instrumente (1973/75)

Verlag/Label: Music Edition Winter & Winter und WDR Köln 910 150-2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/06 , Seite 81

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

 

Landidyll ist heut’ schizo – immer mehr Geisterdörfer, leere Höfe und immer mehr Serien-Idyll im TV … aber die Musik hat’s vorweg g’nommen, hat mit Dur-Moll auch all’s Heimelig-Ländliche weg’gränzt und sich strukturell und orthografisch modern-korrekt positioniert. «Land» – das Minder-Bemittelte, nicht mehr Ausflucht und Naturvision bürgerlicher Musikkultur! Insofern tut Kagel auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches, wenn er den etwas herablassend-ironischen Blick der Moderne beibehält und «Unterhaltung» bzw. «Volkstum» quasi objekt- und assemblage-artig vorführt wie eine – allerdings internationale – Sammlung von Hirschgeweih. Aber Kagel wäre nicht Kagel, hätten seine Bosheiten nicht den Schuss Liebenswürdigkeit, ja Liebe, den «Kunst» haben muss, ob bürgerlich oder post-bürgerlich. Und dieser durchaus liebevolle Blick ist es, der die virtuose Doppel-Balance von Clow­nerie und Karikatur einerseits, Dokumentation und Dekomposition anderseits hier nicht nur intellektuell, sondern auch emotional erträglich macht.
Dabei kommt Kagel seine stets etwas circus-auratische Musikalität zugute, in der Tra(ns)p(ar)e(n)z, Elegie und Eleganz vier gleichberechtigte Partner sind. Apropos – reale Partner sind hier auch die eher konventio­nellen (Klarinette, Trompete, Tuba, Geige, Klavier und zwei Gitarristen) und die eher exotischen Instrumente vom Westernklavier bis zur Ukulele, die von sieben Musikern bedient werden – wobei ein dritter Sound-Partner die veristisch-naturalistischen Tonbandeinspielungen sind, hinreißend originell gelungen z. B. im 5. Satz, dessen Clown-Grock-artige Gewitter-Walzer-Verunstaltungen Beethoven nicht minder amüsiert hätten als Johann Strauss. Dafür hätten Rossini und Gustav Mahler am 6. Satz ihren Spaß und könnten sich genüsslich streiten, ob auf den wiehernden und galoppierenden Pferden apokalyptische Reiter sitzen oder vor Indianern auf Schweizer Almen flüchtende Cow­boys.
Die Sache hat Sinn: Der normalerweise von Avantgarde gelangweilte oder zumindest zutiefst betroffene Hörer ahnt schrittweise, dass auch Witz und Pointe feingeschliffene Mittel von Kultur- und Musikgeschichte sein können – Kagels kurzweilige 15-teilige und dreiviertelstündige Musik-Lektion ist dabei ein erhellendes Dokument von aufklärerischem Charme!
Das Amsterdamer Ensemble gibt dieser unter Mitwirkung des Komponisten 1997 entstandenen Einspielung einen höchsten Grad an Authentizität, wobei auch die artikulatorischen Lockerungs- und Verspannungsübungen der drei Vokalisten einen originellen Part abgeben, der hier von Angela Tunstall (Sopran), Susan Bickley (Alt) und Alan Belk (Tenor) in immer neu befremdend-freundlicher Manie bestritten wird!
Die bei aller kritischer Würze aufbauend positive Komposition dieses Meisters der Negativ-Kopie könnte gewiss dazu führen, dass wir öfter aufs Land fahren, um unsere Großstadtgärten mit warmem Kuh- und Pferdekot zu düngen!

Hans-Christian von Dadelsen