Tadday, Ulrich (Hg.)
Karl Amadeus Hartmann: Simplicius Simplicissimus
Reihe «Musik-Konzepte», Band 147
Lohnt sich, nach dem Buch von Rüdiger Behschnitt («Die Zeiten sein so wunderlich
», Hamburg 1998), nach diversen Aufsätzen und zwei ausführlich betexteten Schallplatten-Einspielungen (Wergo; BR Klassik), eine weitere Publikation zu Karl Amadeus Hartmanns einziger Oper Simplicius Simplicissimus? Auf jeden Fall, denn hinter der scheinbar eindeutigen inhaltlichen und musikalischen Disposition lauern ungelöste Probleme und worauf Stefan Weiss in seinem Beitrag zur Hartmann-Rezeption mit Recht kritisch hinweist die andauernden Filiationen des Schlagworts vom «Bekenntnismusiker», das allzu viele Kommentatoren umstandslos benutzten und nicht mehr hinterfragten. Der vorliegende Band der Musik-Konzepte ist das Ergebnis eines Hannoveraner Kolloquiums, und wie nötig die erneute Beschäftigung mit dem «Simpl» war, macht vorzüglich Ulrike Böhmer mit ihrem Beitrag zur Werkgenese deutlich, wofür Briefe, Handschriften und andere bislang ungenutzte Dokumente endlich ausgewertet wurden. Nicht minder weiterführend Nina Noeskes Aufsatz über «Implizite Ethik» bei Hartmann, wohltuend in den unaufgeregten Konstatierungen.
Gleichwohl zieht sich durch den ganzen Band eine fast verbissene Kontroverse um den politischen Standort des Komponisten, deren insistente Polemik nicht recht einleuchtet. Hartmanns Standort einer zwar gefühlsmäßigen, aber durchaus reflektierten linken Position ist bekannt und vielfach auch durch eigene Aussagen belegt, man muss dies eigentlich weder wortreich bestätigen (wie im Aufsatz von Hanns-Werner Heister) noch in Frage stellen von einer fiktiven Position des allgemein Menschlichen her, dem jede Gewalt, auch die der aufständischen Bauern, ein Gräuel sei (Egon Voss, Stefan Weiss). Zwar schrieb Hartmann eine Oper über den einfältigen Simplicius, aber er selbst war durchaus nicht so einfältig, eine Revolution mit einem Sektempfang nach einer gewonnenen Parlamentswahl zu verwechseln; Revolutionen wenden sich gegen bestehende Gewaltverhältnisse, deswegen finden sie statt, und das war Hartmann wohl bewusst. Interessant in diesem Zusammenhang ist der einleitende Beitrag Peter Beckers über «Äußere und innere Landschaft im Dreißigjährigen Krieg», wobei man lediglich über den Begriff «Unausstaunlichkeiten der Hartmannschen Partitur» (S. 20) stolpert, ein Wort, das der Rezensent vergeblich im Duden suchte.
Eine Frage, die weit über Hartmann hinausreicht, betrifft die Zitierfähigkeit der Internet-Enzyklopädie Wikipedia. Heister benutzt sie ausgiebig, Herausgeber Tadday spricht ihr die Wissenschaftlichkeit ab (S. 31, Anm. 3). In Anbetracht der Tatsache, dass Wikipedia durch die Benutzer gestaltet und stetig verändert wird, ist der Vorbehalt verständlich; auch sollte man das berühmte Diktum Max Horkheimers «Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen» wenn überhaupt, dann original zitieren und nicht in einer durch Wikipedia überlieferten indirekten Rede (S. 34). Unabhängig davon empfindet der Rezensent das grafische Kauderwelsch einer mehr als vier Zeilen langen Internet-Adresse (S. 38, Anm. 22) als nicht nur optische Zumutung. (Ist das die Zukunft der Wissenschaft?)
Heisters Insistieren auf Hartmann als einem sozialistischen Künstler erhält allerdings nachträgliche Stringenz durch die, gelinde gesagt, diskussionsbedürftigen Ausführungen von Stefan Weiss, der Hartmann eine Gleichsetzung des Gewaltsyndroms von Bauernaufstand und Faschismus unterschiebt (S. 121) oder unterstellt, manche Werke Hartmanns würden nur um ihres politischen Gehalts willen überhaupt noch aufgeführt (S. 115). Man sieht: Auch zwanzig Jahre nach dem (gott-sei-gelobten) Ende des Ost-West-Konflikts tun sich die «Besserwessis» immer noch schwer, linke Positionen als legitim anzuerkennen, wie es in Ländern wie Italien oder Frankreich ganz selbstverständlich ist. Zwei winzige Fehler: Das von Hartmann motivisch verwendete Lied heißt nicht «Soldaten
», sondern «Partisanen vom Amur» (Egon Voss, S. 85), und der Dirigent der CD Friedens-Seufftzer und Jubel-Geschrey heißt nicht Martin, sondern Manfred Cordes (Becker, S. 19, Anm. 16).
Hartmut Lück