Frisius, Rudolf

Karlheinz Stockhausen III

Die Werkzyklen 1977–2007

Verlag/Label: Schott, Mainz 2013, 656 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/03 , Seite 93

Als Karlheinz Stockhausen die Anschläge des 11. September 2001 als das «größte Kunstwerk, das es je gegeben hat», bezeichnete und dann zurückruderte, dies habe ihm Luzifer eingegeben, wurde mit einem Mal schlagartig klar, wie sehr sich der Komponist in die Privatmythologie seines eigenen Werks versponnen hatte: Luzifer ist mit Michael und Eva eine der Hauptfiguren seines siebenteiligen Opernzyklus LICHT, mit dem der Komponist damals und seit 24 Jahren ausschließlich beschäftigt war. Ein katholisches, kosmisches Grundprinzip, so könnte man sagen, in Stockhausens Welt.
Im dritten Teil seiner Stockhausen-Monografie beschäftigt sich Rudolf Frisius auf 656 Seiten eben mit LICHT, dem Zyklus zu den sieben Tagen der Woche, sowie dem unvollständig gebliebenen Zyklus KLANG zu den 24 Stunden des Tages, an dem der Komponist die letzten drei Jahre seines Lebens bis 2007 gearbeitet hat. So viel Exegese ist notwendig an­gesichts der Monumentalität dieser Werke, die kaum jemand vollständig gehört haben dürfte. Frisius betont, dass es trotz vieler Aufführungen, einer umfangreichen Literatur und zahlreichen Selbstdeutungen seit den 1950er Jahren auch noch einen «unbekannten Stockhausen» gebe. Insbesondere die Zusammenhänge zwischen den vielfältigen Ansätzen des frühen und der einheitlichen Großform des späteren Werks, diagnostiziert er, werden oft nicht hinreichend erkannt. Frisius schickt sich an, diese Verbindungen herauszuarbeiten: von der «Weltmusik» der Hymnen zum «Weltparlament» im Mittwoch aus LICHT, von der seriellen Musik über die «Formeln» der 1970er Jahre in Werken wie Mantra, Harlekin oder dem Tierkreis-Zyklus bis hin zur «multiformalen Musik». Die «Superformel» besteht aus einer polyphonen Kombination der drei kontrastierenden Formeln des Michael, der Eva und des Luzifer, in denen sich jeweils eine spezifische Folge von Aufstieg oder «Aufsprung» und Fall allegorisch auf Michael, Eva oder Luzifer hin ausdeuten lassen.
Nachdem er die Grundlinien herausgearbeitet hat, bespricht Frisius jedes einzelne Werk beider Zyklen mit zahlreichen Notenbeispielen, De­tailanalysen, Aufbauschemata, Zitaten, Abbildungen von Programmheften und Aufführungen. Das Konzerterlebnis selbst lässt sich so weder ersetzen noch darstellen, aber das musikalische Denken wird deutlich, das diese Kompositionen hervorgebracht hat – und die Verbindungen zwischen den einzelnen Werken, innerhalb eines Zyklus und zu früheren Kompositionen. Prinzipiell hat dies der Komponist schon vorgezeichnet, wenn er sein Lebenswerk in Form einer «Werkspirale» als sinnhafte Evolution und ästhetisches Ganzes darstellt. Von der handschriftlichen Skizze bis hin zum Gartentor und zum Grabstein hat Stockhausen auch eine Menge Selbststilisierung betrieben. Frisius enthält sich des Kommentars. Aber er macht deutlich, dass es bei all den Bemühungen um ein großes, «kosmisches» Gesamtwerk in erster Linie immer noch auf eines ankommt: das durchaus immer wieder überraschende, ja oft rätselhafte musikalische Detail.

Dietrich Heißenbüttel