Krytska, Iryna
Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI (1956)
Interpretationsanalysen (= Kölner Beiträge zur Musikwissenschaft, Band 17)
Aufgrund seiner unkonventionellen Partitur öffnet sich Stockhausens Klavierstück XI den Möglichkeiten vielfältiger interpretatorischer Umsetzungen, während es kompositionstechnisch auf einer systematischen, dem seriellen Denken verhafteten Konstruktion beruht. Völlig zu Recht geht Iryna Krytska daher von der Annahme aus, dass die Partituranalyse nur eine Vorstufe zum Verständnis des Werks sein kann, die eigentlichen Konsequenzen von Stockhausens Konzeption hingegen über die Problematik der interpretatorischen Annäherung erforscht werden müssen. Demzufolge legt die Autorin den Fokus auf ausgewählte Interpretationen als den «konkrete[n] Erscheinungsmöglichkeiten des Stücks in der Vielfalt ihrer musikalischen Auswirkungen» (S. 5).
Im Eingangskapitel dröselt Krytska die terminologische Verwirrung auf, die sich in Bezug auf die Begriffe «Aleatorik», «Indetermination» und «offene Form» ergeben hat; sie spürt den ursprünglichen Bedeutungen nach, beleuchtet den Wandel, der sich durch die theoretische Reflexion des Vokabulars zwischen 1950 und 1960 ergeben hat, und stellt vor diesem Hintergrund die innovativen Aspekte von Stockhausens Klavierstück dar. Von diesen Grundlagen ausgehend, befasst sich die Autorin mit den Voraussetzungen der seriellen Organisation und der unbestimmten Partitur, stellt also die beiden kontrastierenden Pole der Konzeption einander gegenüber und betrachtet sie im Kontext von Stockhausens theoretischer Auseinandersetzung mit dem Thema der musikalischen Zeit.
In den nachfolgenden Analysekapiteln stehen zunächst diverse Versionen David Tudors und Aloys Kontarskys im Mittelpunkt, die als «extreme Richtungen möglicher Werkdeutungen» die Interpretationsgeschichte maßgeblich mitbestimmten, während im Anschluss daran einzelne Versionen Bernhard Wambachs untersucht werden, welche die Autorin als «Versuch einer Synthese zwischen den beiden Herangehensweisen Tudors und Kontarsky» auffasst (S. 21). Neben den Aufnahmen selbst gehören Begleitmaterialien wie Skizzen zur Ausarbeitung von Aufführungspartituren oder auch Briefe zum Umfeld des Untersuchungsmaterials, woraus sich einige bemerkenswerte Schlussfolgerungen für die interpretatorischen Entscheidungen, aber auch beispielsweise für Tudors Einfluss auf die Entwicklung von Stockhausens Idee einer «neuen Instrumentalmusik» (S. 84) ergeben.
Krytska weitet ihre Forschungsperspektive schließlich noch durch den Blick auf andere, mitunter auch problematische Versionen von Interpreten wie u. a. Herbert Henck, Pierre-Laurent Aimard oder Benjamin Kobler. Insgesamt gelingt es der Autorin, eine werkadäquate Methode der Interpretationsanalyse zu entwickeln und so die im Klavierstück XI eröffneten kompositionstechnischen, interpretatorischen und rezeptionsästhetischen Perspektiven in ihrer ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit zu veranschaulichen. Ihr Buch ist daher auch ein bedeutender und vorbildlicher Beitrag zur Interpretationsanalyse jüngerer Musik.
Stefan Drees