Nyffeler, Max

Klang gewordener Eigensinn, Bild gewordener Dreiertakt

Werke von Xenakis und Cage beim Label mode records

erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/06 , Seite 70

Das von Brian Brandt geleitete New Yorker Label mode records ist eine jener typischen Einmann-Initiativen, die sich dank des jahrelangen zähen Allround-Einsatzes ihrer Gründer zu Markenzeichen im Bereich von Produktion und Verbreitung neuer Musik entwickelt haben. Was die technischen Standards angeht, so hat das Label seine Nase stets vorn gehabt. Es veröffentlichte als erste Firma eine Surround-DVD mit neuer Musik – audiovisuelle Werke von Roger Reynolds – und brachte Morton Feldmans sechs Stunden dauerndes Zweites Streichquartett mit dem Flux Quartet erstmals zur unterbrechungsfreien Wiedergabe auf einer DVD-Audio heraus, in High Definition Standard mit einer Abtastrate von 48 kHz und 24 Bit.
Neben vielen Veröffentlichungen mit Werken amerikanischer Komponisten hat sich mode records in jüngster Zeit vermehrt auch des europäischen Repertoires angenommen und dabei interessante Repertoirelücken entdeckt. Das Label meidet eher die breiten Pfade des avantgardistischen Mainstreams mit seinen routinierten Festival-Komponisten und befasst sich lieber mit wenig erschlossenen oder der Vergessenheit anheimgefallenen Gebieten. Unterstützt wird es dabei auch von der Redaktion Neue Musik des Westdeutschen Rundfunks, die neuerdings als Koproduzent mancher exponierter mode-Veröffentlichungen in Erschei­nung tritt.

Xenakis-Dokumente der sechziger Jahre

Diese mutige Repertoire-Politik zeigt sich zum Beispiel an der Xenakis-Edition, die inzwischen stattliche Dimensionen angenommen hat. Der mode-Katalog listet sage und schreibe 47 Werktitel aus allen Schaffensphasen des 2001 verstorbenen Komponisten auf. Charakteristisch für die Veröffentlichungsstrategie des Labels: Die jüngsten Produktionen sind zugleich auf CD und auf DVD erschienen. Die Booklets sind für beide Medien identisch, und so gelangt auch der DVD-Konsument zu ausführlichen begleitenden Kommentaren.
Musikalische Raumkonzepte spielten bei Iannis Xenakis stets eine wichtige Rolle, und seit den 1960er Jahren experimentierte er vermehrt auch mit audiovisuellen Formen. Seine Werkkonzepte waren meist eng auf die konkreten Gegebenheiten der Aufführungsräumlichkeiten abgestimmt und deshalb nur begrenzt reproduzier- und speicherbar. Diese Schwierigkeiten sind zu berücksichtigen, wenn man sich die drei auf der DVD Xenakis – Electronic Music 2 versammelten Kompositionen anhört und ansieht. Polytope de Cluny, eine elektroakustische Komposition für achtkanaliges Tonband, entstand 1972-74 für das Festival d’Automne in Paris. Die räumlich-visuelle Komponente, zu der unter anderem der Einsatz von Laserstrahlen gehörte, wurde damals nicht aufgezeichnet, und so wird der technisch perfekt restaurierte Raumklang nun mit Informationsmaterialien von der damaligen Aufführung kontrapunktiert. Werkebene und historisch-dokumentarische Ebene werden, durchaus in Sinn der damaligen Aufführungsästhetik, zu einem neuen Ganzen kombiniert.
Während das zweite Stück, Hibiki Hana Ma, komponiert für eine mit 128 Lautsprechern beschallte Konzerthalle in Japan, eine rein elektroakustische Komposition darstellt und auf der DVD konsequenterweise mit schwarzem Bildschirm abgespielt wird, handelt es sich beim dritten, NEG-ALE, um die Ausgrabung einer Partitur, die Xenakis 1960 zu einem Film über Schwarzweiß-Bilder von Vasarely schrieb und später zurückzog. Originalsoundtrack und Film wurden nach qualitativ hochwertigen Standards neu gemastered und erscheinen hier zum ersten Mal im Handel. Auffällig ist, dass sich Xenakis nicht um Synchroneffekte zum Bild bemühte, sondern Klang und Bild in der Art von Cages Überlagerungsverfahren als voneinander unabhängige Ebenen betrachtete.
Der französisch-ungarische Op-Artist Victor Vasarely spielt auch eine Rolle in der Komposition Kraanerg, der eine ganze DVD gewidmet ist. Xenakis komponierte dieses Werk für 23 Instrumente und Tonband 1968-69 für eine Ballettaufführung in Montréal, zu der Vasarely die Dekoration schuf. Das von anarchischer Kraft nur so strotzende Stück stammt noch aus Xenakis’ Schaffensperiode der formalized music und muss auf die kanadischen Theaterbesucher damals einigermaßen befremdlich gewirkt haben. Die DVD kombiniert eine heutige Werkaufzeichnung mit einer Dokumentation über die historische Aufführung und einer aufschlussreichen Diskussion zwischen den Xenakis-Experten Gérard Pape und James Harley, ergänzt durch Erinnerungen von Françoise Xenakis und Veronica Tennant, der Primaballerina der Uraufführung. Man erlebt eine facettenreiche Begegnung mit dem in seiner Radikalität großartigen Werk, das hier mit allen extensiven Pausen und einem auf den neustem technischen Stand gebrachten Tonbandpart zu hören ist.
Die Gesamtaufnahme aller Streichquartettkompositionen ist schließlich auf der jüngsten Xenakis-Veröffentlichung von mode records zu hören. Das amerikanische JACK-Quartett, eine junge Formation, die auf dem besten Weg ist, den routinierten Ardittis das Wasser abzugraben, präsentiert sich darin als ideales Ensemble für Musik dieser schwierigen Sorte. Das visionärste von all diesen hochgradig eigensinnigen Werken ist noch immer das erste, aus der stochastischen Phase stammende Werk ST-4/1, 080262. Es wird hier in strengem Schwarzweiß gefilmt. Die Bildregie zeigt nicht die üblichen Einstellungen eines gepflegten Streichquar­tettkonzerts, sondern versucht, die extrem sprung­hafte, unvorhersehbare Zeitgestaltung in eine adäquate Bilddramaturgie umzusetzen. Ungewöhnliche Perspektiven­wech­sel und blitzschnelle Schnitte prägen das Bild, Auge und Ohr werden bei der Wahrnehmung gleichermaßen gefordert.

Walzerkomponist Cage

1977 lud der New Yorker Verlag C. F. Peters 25 Komponisten ein, zum Verlagsjubiläum einen kleinen Walzer für Klavier zu komponieren. Der Auftrag ging auch an John Cage. Doch dieser hielt sich, wie anderthalb Jahrhunderte vor ihm schon Beethoven mit dem Diabelli-Walzer, nicht an die Vorgaben des Verlegers. Seine Methode, mit Zufallsoperationen des I Ching zu arbeiten und alles, was klingt, vom Instrumentalton bis zum Straßengeräusch, in seine Konzepte einzubeziehen, handhabte er damals auf extensive Weise. Und so lieferte er seinem Verleger kein Klavierstück ab, sondern ein offenes Konzept unter dem Titel 49 Waltzes for the Five Boroughs, Untertitel: «For performer(s) or listener(s) or record maker(s)».
«Material» der Komposition war das New Yorker Straßenverzeichnis mit den fünf Bezirken (boroughs) Manhattan, Bronx, Brooklyn, Queens und Staten Island. Darin bestimmte er durch Zufallsperationen 147 Straßenkreuzungen und verband immer drei davon mit Geraden. So entstanden 49 offene Dreiecke auf der Straßenkarte, und jedes stellte einen Dreischritt über die Topografie der Stadt dar – eben einen «Walzer». Was nun an diesen dreimal 49 Straßenecken passieren sollte, ließ Cage offen.
In vollem Umfang realisiert wurde das Konzept erstmals anderthalb Jahre nach Cages Tod durch Don Gillespie, Cages ehemaligen Lektor bei Peters. Er schlüpfte in die Rolle des vom Komponisten vorgesehenen «record makers», wies jedem der 147 Klangorte einen ebenfalls zufallsgenerierten Dauerwert zu und machte von Januar 1994 bis Januar 1995 mit einem kleinen Videoteam die entsprechenden Aufnahmen an den quer durch die Stadt verstreuten Orten.
Herausgekommen ist ein faszinierendes Bild der Stadt New York. Aus der Folge der 147 kurzen Sequenzen – die kürzeste dauert 16, die längste 224 Sekunden – entsteht ein Kaleidoskop von Stadtansichten, die kein Mensch je in dieser Form zu Gesicht bekäme: Wer würde schon kilometerweit in die Vorstädte fahren, um dort eine x-beliebige Straßenkreuzung zu besichtigen? Touristische Ansichten aus Manhattan sind in absoluter Minderzahl. Vorherrschend sind Bilder von anonymen Orten: verlassene Fabrikareale in der Bronx, gepflegte Einfamilienhaus-Idyllen in Queens, Schnellstraßen, die von irgendwo nach nirgendwo führen, verwilderte Uferzonen auf Staten Island, Mietskasernen in Brooklyn. Das alles von belebt bis menschenleer. Bei den langsamen Kamera-Schwenks tastet das Auge die ins Blickfeld geratenden Details ab, und das Ohr registriert die für jeden Ort charakteristischen Umweltgeräusche und mensch­lichen Stimmen.
Es ist eine kongeniale Realisierung von Cages Konzept. Sie liefert ein unendlich facettenreiches Bild der Wirklichkeit und lässt das «Kunstwerk», ganz im Sinn seines Autors, vollständig im täglichen Leben aufgehen: Here comes everybody. Wer bereit ist, sich das zweistündige Aufnahmepuzzle geduldig anzusehen, erfährt mehr über die Stadt und ihre Menschen, als ein Besucher – und wahrscheinlich sogar ein Einheimischer – je erfahren kann. New York von hinten: Auf diese Idee, mit der eisernen Konsequenz des Zufalls umgesetzt, konnte nur Cage kommen.