Celestini, Frederico / Elfriede Reissig (Hg.)

Klang und Quelle

Ästhetische Dimensionen und kompositorischer Prozess bei Giacinto Scelsi (= Musik und Kultur, Band 2)

Verlag/Label: Lit Verlag, Münster 2014
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/03 , Seite 86

Die Scelsi-Forschung erlebt in jüngs­ter Zeit Höhenflüge. Nach der 2013 erfolgten Edierung der Gesammelten Schriften Giacinto Scelsis durch Fried­rich Jaecker bietet die Publikation Klang und Quelle nun eine sinnfällige Ergänzung. Das gesteigerte Interesse an Scelsi (1905–88) begründen die Herausgeber nicht zuletzt mit dessen Identität als Grenzgänger: «An der Schwelle zwischen Orient und Okzident, Komposition und Improvisation, Rationalität und Mystik fordert Scelsis Musik diejenigen heraus, die sich ihr forschend, hörend oder durch deren Interpretation nähern wollen.» Beherrschte die Mystifizierung des italienischen Komponisten, zu der er selbst nicht unwesentlich beitrug, über Jahrzehnte den Diskurs, so markierte die Eröffnung des Scelsi-Archivs in Rom 2009 einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit seinem Schaffen.
Klang und Quelle basiert auf Vorträgen, gehalten auf einem Symposium im Januar 2012 in Graz, und spiegelt neue Erkenntnisse wider, die aus der Analyse eben der Quellen gewonnen werden konnten. Hervorzuheben sind zumal Scelsis Tonbänder, die die Transkriptionsgrundlage für die von Assistenten eingerichteten Partituren bildeten, sowie Skizzen, Notizen und Briefe.
Federico Celestini unternimmt den gültigen «Versuch einer musikgeschichtlichen Verortung», wobei er sein Hauptaugenmerk darauf legt, die bis dato immer wieder attestierte «Besonderheit» und Außenseiterposition Scelsis zu relativieren und ihn samt seiner Konzentration auf klangliche Dimensionen in die Tonkunst des 20. Jahrhunderts einzubinden. Zur Sprache kommen dabei Scelsis eigene Bezugspunkte wie die Zweite Wiener Schule und Karlheinz Stockhausen sowie der Einfluss, den er auf die Spektralisten, zumal auf Horatiu Radulescu, ausübte. Indirekt daran an knüpft Markus Bandur in seinem klugen Aufsatz über Scelsis akustisches Material im geschichtlichen Kontext. Eine konsequente Entdämonisierung Scelsis betreibt auch Johannes Menke, der schlüssige Überlegungen zu den Satztechniken in den Vokalpartituren anstellt.
Ein weites Feld ist die Asien-
Rezeption Scelsis, der Ursula Baatz ebenso eingehend nachspürt wie In­grid Pustijanac seinen Beziehungen zur «Gruppo die Improvvisazione Nuova Consonanza», von deren Konzept Scelsi angeregt wurde. Hoch spannend sind die präzisen Ausführungen von Friedrich Jaecker, der beim Durchhören der Tonbänder auf gestalterische Aspekte stieß: Danach zeichnete Scelsi seine Improvisationen nicht einfach nur auf, sondern er formte und schichtete sie, verdichtete sie durch Überspielungen oder erzielte durch Schnitttechniken palindromartige Klanggebilde.
Der profunden Analyse einzelner Werke vor dem Hintergrund kultureller und wahrnehmungspsychologischer Faktoren widmet sich Christian Utz in «Scelsi hören», während Georg Friedrich Haas die einschneidenden Folgen der Begegnung mit Scelsis Musik für sein eigenes schöpferisches Denken überzeugend darlegt.
Egbert Hiller