Stockhausen /Beethoven

Klavierstücke / Sonaten

Verlag/Label: hat[now]Art 193
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/02 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Mit Werken von Scarlatti und Cage hat sie es schon einmal getan, und nun tat sie es im selben Label mit Einspielungen von Werken Beethovens und Stockhausens erneut. Diese Interpretin will sich partout nicht festlegen lassen, weder auf die Neue noch die Alte Musik. Stattdessen will sie beides, zusammen und abwechselnd auf ein und derselben CD.
Pi-Hsien Chen ist mit der Nachkriegsavantgarde von Messiaen, Barraque, Boulez, Cage und Stockhausen ebenso vertraut wie mit dem klassisch-romantischen Repertoire von Mozart, Beethoven und vor allem Bach. Klavierwerke des späten Beethoven und des frühen Stockhausen behandelt sie gleichrangig als «Klassiker». Ihre neueste Einspielung von Stockhausens Klavierstücken I bis VI lebt weniger vom Tastenanschlag, der freilich Ursache bleibt, als vielmehr vom höchst differenzierten Aus- und Nachklingen der Intervalle, Akkorde und plötzlich wie schwerelos im Raum schwebenden Liegetöne.
Stockhausen intendierte mit seinem seriellen Punktualismus eine von aller tonalen Gestik und musiksprachlichen Syntax befreite «Sternenmusik». Im Wechsel mit Beethovens Klaviersonaten opp. 101 und 111 entstehen auf dieser CD die abenteuerlichsten strukturellen und intentionalen Kontraste. Immerhin ist der Kopfsatz der 1814 entstandenen A-Dur-Sonate op. 101 «mit der innigsten Empfindung» zu spielen. Zugleich entdeckt Pi-Hsien Chens entsprechend fokussierte Interpretation bemerkenswerte Querverbindungen zwischen beiden Werkkomplexen. Denn klangliche Raffinesse und konstruktiven Geist wie bei Stockhausen zeigen auch die Fugen des Finalsatzes von op. 101. Und das Kopfmotiv des dortigen Hauptthemas klingt völlig unerwartet auch in der unmittelbar sich anschließenden Intervallkonstellation zu Beginn von Klavierstück V an, das mit fünf Minuten Dauer erheblich länger ist als die 1952/53 entstandenen ersten vier Klavierstücke. Nr. VI von 1955 erreicht schließlich mit zwanzig Minuten exakt dieselbe Dauer wie Beethovens op. 101.
In Stockhausens Nachbarschaft akzentuiert Chen vor allem den Dissonanz-Reichtum des ersten Satzes von Beethovens 1821/22 entstandener letzter Klaviersonate c-Moll op. 111. Im Wechsel mit Stockhausens jeden tonalen Rahmen verlassender Klaviermusik springt auch die unglaubliche satztechnische Freiheit der «Arietta» wieder neu ins Ohr, wo die Stimmen stellenweise bis zu sechs Oktaven auseinander bis an den Rand der harmonikalen Beziehungslosigkeit getrieben werden. Die Berührungspunkte der durch 140 Jahre getrennten Werke sind erstaunlich. Eine Musik beleuchtet die andere. Das ist ebenso genial wie naheliegend und zwingend. Denn schließlich gilt im Allgemeinen, was Pi-Hsien Chen auf dieser CD im Besonderen einmal mehr eindrücklich unter Beweis stellt: Wer nur alte Musik spielt und hört, verkennt, dass auch diese einst die neue Musik ihrer Zeit war. Und wer nur neue Musik spielt und hört, wird nie erfahren, dass diese trotz aller Brechungen – wo und wie auch immer – auf der alten aufbaut.
Rainer Nonnenmann