Kretzschmar, Hermann

Knotts Klavier und andere Werke 1991–2007

Verlag/Label: Ensemble Modern Medien EMCD-005
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/05 , Seite 86

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 4

 

Seit Arnold Schönbergs 1. Kammersinfonie sind Ensembles der neuen Musik wesentlich Solistenensembles, bei denen jeder Musiker mit eigener Stimme als Solist agiert. Mit der Reihe «Portrait CD», die das Ensemble Modern in Kooperation mit seinem Kulturpartner hr2-kultur herausgibt, trägt das Frankfurter Spitzenensemble diesem Umstand nun ausdrücklich Rechnung, indem es seine Mitglieder als Initiatoren und Interpreten von Solowerken vorstellt. Gleich ein doppeltes Porträt zeichnet die Hermann Kretzschmar gewidmete CD. Sie dokumentiert sein Können als bekannter Pianist, der seit 1985 dem Ensemble Modern angehört, und als weithin unbekannter Komponist.
Naheliegenderweise komponierte Kretzschmar vor allem für sich als Pianist. Nur drei seiner insgesamt 14 Stücke der CD sind für andere Besetzung. Alle Klavierstücke basieren auf klaren konzeptionellen Vorstellungen. Eines der frühesten, Am Automat von 1991, verwandelt eine Ton­leiteretüde durch Auslassungen, Sprünge und Einschübe zu seltsam verrückten Folgen. In vier verwendet Kretzschmar nur den höchsten und tiefsten Ton sowie e1 und f1 in der Mitte der Klaviatur. Was simpel klingt, ist tatsächlich eine anspruchsvolle Bewegungsstudie, bei der die Pianisten-Hände äußerst flink große Distanzen auf der Tastatur zu überbrücken haben. Im virtuosen Mittelteil des Klavierstücks in 3 Teilen, einem irrwitzigen Ragtime, treibt sich der Pianist-Komponist an die Gren­zen der Spielbarkeit. In anderen Werken sucht er die Auseinandersetzung mit dem klassischen Klavierrepertoire. In den 5 Preludes verwendete er aus den fünf langsamen Einleitungen von Beethovens Klavier­sonaten jeden Ton und Akkord der Reihe nach nur ein einziges Mal. Aufgrund der gestischen Kraft von Beethovens Musik klingen aus den dekomponierten Fragmenten dennoch unverkennbar «Pathetique» und «Appassionata» heraus. Ähnlich verfuhr Kretzschmar in Neunzehndrei mit Material aus Schönbergs Klavierstück op. 19,3 und in 9 Würfelstücke mit Mozarts Musikalischem Würfelspiel.
Mehr die Demonstration eines physikalischen Effekts als eine wirkliche Komposition ist seine Etüde in A. Durchgehende A-Dur-Repeti­tio­nen erfolgen in schnellem Wechsel mit Samples desselben Akkords, die bei jeder Wiederholung um einen hundertstel Halbton erhöht werden, bis beim hundertsten Mal der komplette Halbtonschritt B-Dur erreicht ist, auf den der Pianist nachzieht, und derselbe Prozess wieder abwärts führt. Eine zentrale Rolle spielt die Elektronik auch in these days, einem improvisatorisch wirkenden Stück über leicht psychedelisch anmutende Synthesizer-Sounds der 1970er Jahre, und in haydnspaß, wo collagierte Radioereignisse einen Streichquartettsatz aus vier Akkorden von Haydns Kaiserhymne überlagern. Die Einspielungen der Stücke durch den Komponisten und seine Kollegen vom Ensemble Modern sind zweifellos kongenial.

Rainer Nonnenmann