Szymanowski, Karol

König Roger

Verlag/Label: C-Major 702904 (1 Blu-ray)
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/03 , Seite 79

Multikulturelle Lockrufe: «König Roger» von Karol Szymanowski

1924 beendete Karol Szymanowski seinen Dreiakter König Roger, und genau zu dieser Zeit begann sich auch Arnold Schönberg mit Moses und Aron zu befassen. Die beiden Musiktheaterwerke haben unterschwellige Gemeinsamkeiten. Beide sind Ausdruck einer geistigen Krise, und beide thematisieren die gesellschaftlich stabilisierende Rolle der Religion bzw. die Folgen ihres Verlusts. Und beide sind darin ungebrochen aktuell. Die Problematik kleiden sie in die Frage nach dem «richtigen» Kult. Doch während bei Schönberg die göttliche Instanz ewig unerforschlich und damit unantastbar bleibt, kommt es bei Szymanowski zum Zerfall der herrschenden Religion und der gesellschaftlichen Bindungen. Das asketische Christentum, musikalisch durch großartige, strenge Chorsätze dargestellt, wird durch einen rauschhaft-orientalisierenden Kult zu Fall gebracht. Der Herrscher selbst, der sizilianische König Roger, verfällt den sinnlichen Heilsversprechen einer unerwartet auftauchenden Hirtengestalt, und mit ihm fällt die ganze innerlich bereits schwankende Gesellschaft. Der Sinnenkult, der bei Schönberg in Gestalt des Goldenen Kalbs von Moses erfolgreich bekämpft wird, trägt bei Szymanowski den Sieg davon, auch wenn sich der König im Schlussbild in einer Art sühnender Rückbesinnung noch rasch zum apol­linischen Griechentum, der dritten Kultur des Mittelmeerraums, bekennt und dadurch ideologische Absolution erhält.
Der Siegeszug des neuen Heilsbringers, halb Naturgott, halb Wanderguru, wird durch eine mediterrane, mikrotonal schillernde Musik untermalt, die den hochexpressiven Gesang in einen farbensatten Klangstrom einbettet. Im Werk, das die Thematik von Euripides’ Bacchen aufgreift, überschneiden sich Motive der europäischen Décadence des frühen 20. Jahrhunderts mit einer Öffnung zum Multikulturalismus. Darauf verweisen schon der Schauplatz Sizilien, ein Ort im Schnittpunkt der Kulturen, und die Figur des arabischen Gelehrten Edrisi, der als Berater des Königs fungiert.
Zu der von starken Emotionen getra­genen Musik erfand der Regisseur David Pountney eine Folge von großformatigen Bildern; seine Inszenierung entstand für die Bregenzer Festspiele 2009. Das Einheitsbühnenbild von Raimund Bauer mit den nach hinten aufsteigenden Amphitheater-Stufen bildet den nüchternen architektonischen Rahmen für die präzis entworfenen wuchtigen Massenszenen, und im Wechsel von geometrisch klar geordneten Szenen und chaotischen Prozessen nimmt das konflikthafte Aufeinanderprallen der Weltbilder sinnfällige Formen an. Die Szenerie ist eine Steilvorlage für die Bildregie von Felix Breisach, in der die individuellen, aus der Nahperspektive aufgenommenen Vorgänge mit grandiosen Totalen kontrastieren. Mit ihrer Farbsymbolik trägt die Lichtregie von Fabrice Kebour zum starken visuellen Gesamteindruck dieser Produktion bei.

Max Nyffeler