Utz, Christian

Komponieren im Kontext der Globalisierung

Perspektiven für eine Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts

Verlag/Label: [transcript], Bielefeld 2014, 436 Seiten, 39,99 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 95

In nicht weniger als 37 Aufsätzen hat Christian Utz das Thema seiner Dissertation «Neue Musik und Interkulturalität» (2002) weiter reflektiert und diese im vorliegenden Band in Zusammenhang gesetzt. Ein Argument, warum es sich lohnt, sich angesichts des großen Erfolgs populärer sogenannter Weltmusik mit dem marginalen Gebiet des globalen Komponierens zu beschäftigen, liefert Utz gleich vorab: weil diese Tätigkeit für viele Komponisten gegenüber der fortschreitenden Verflachung musikalischer Traditionen und ihrer nationalistischen Vereinnahmung einen Akt kulturellen Widerstands bedeutet. Zwei weitere Argumente führt sein Buch auf beeindruckende Weise vor Augen: erstens den großen Reichtum musikalischer Ansätze, der aus dem Prozess der Verhandlung zwischen den Kulturen erwächst; und zweitens, dass eben diese Auseinandersetzung zeigt, wie Orientierung im Kontext der Globalisierung jenseits einer reduktiven Einengung auf vermeintlich unveränderliche «Identitäten» und einer weltweiten hegemonialen Vereinheitlichung gelingen kann. Wie schon in seiner Dissertation liegt der Schwerpunkt eindeutig auf Ostasien, mit punktuellen Erweiterungen etwa auf den philippinischen Komponisten José Maceda oder die Auseinandersetzung von György Ligeti mit afrikanischer Polyrhythmik.
Utz’ Thema ist die Komposition, also die verschriftlichte Musik. Dass Solistinnen wie Jin-Hi Kim oder Xu Fengxia eher aus der improvisierten Musik kommen, geht dabei etwas unter. Dabei sind es nicht selten die Instrumentalisten, die Komponisten zu neuen Werken anregen. Davon abgesehen, lässt sich gegen Utz’ Buch kaum etwas einwenden: Eine vergleichbar profunde und umfangreiche Darstellung zu diesem enorm weiten Themenkomplex liegt kein zweites Mal vor. Mit zahlreichen Notenbeispielen geht der Autor tief
in die musikalische Analyse. Aber er macht auch deutlich, dass es damit nicht getan ist. Wie sich ein Komponist – auch ein «westlicher» – zwischen Klangfarben und kulturellen Kodierungen entscheidet, dies macht Utz unmissverständlich deutlich, hat immer auch mit einer Orientierung im globalen Kontext, mit identitären Fragen zu tun, auch wenn diese von Fall zu Fall anders ausfallen: nicht nur bei Toru Takemitsu und Yuji Takahashi, sondern auch bei Helmut Lachenmann, dessen Verwendung der Sho in Das Mädchen mit den Schwefelhölzern Utz über 24 Seiten hinweg eingehend analysiert. Abschließend führt der Autor auch sein eigenes Komponieren vor, das er als «Spurensuche im Zwischen» verortet, in einem Raum, «der in ein globales kulturelles Gedächtnis geweitet ist […], vollkommen unabhängig von Nationalität, Herkunft, Geschlecht und Ausbildungsweg.»

Dietrich Heißenbüttel