Anderson, Christine

Komponieren zwischen Reihe, Aleatorik und Improvisation

Franco Evangelistis Suche nach einer neuen Klangwelt (= sinefonia, Band 18)

Verlag/Label: Wolke, Hofheim 2013, 431 Seiten, 49 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 90

Christine Anderson hat mit ihrer Dissertation über den italienischen Komponisten Franco Evangelisti eine herausragende Arbeit geschrieben. Herausragend, weil sie eine akribische Dichte und analytische Tiefe aufweist sowie mit Quellen arbeitet, die zum ersten Mal ausführlich gesichtet worden sind. «Ein methodisches Desiderat war es deshalb, den großen Schatz an Dokumenten zu heben, der damals in italienischen und deutschen Archiven […] unbearbeitet schlummerte», beschreibt sie ihre Strategie in der Einleitung.
In ihrer Studie geht die Musikwissenschaftlerin chronologisch vor. Sie beginnt mit der Kindheit und Jugend Evangelistis, die von einer Aversion gegen die faschistische Intoxikation Italiens gekennzeichnet war und den Komponisten zu einem Antifaschisten und Kommunisten machte. Anderson zeichnet ein Bild des jungen Evangelisti, aus dem hervorgeht, dass er immer eigene Ideen zu realisieren versuchte, anstatt sich ausschließlich an den Vorgaben seiner Lehrer zu orientieren.
Besuche der Darmstädter Ferienkurse führen den jungen Erwachsenen in das musikalische Territorium der seriellen Komposition, was laut Anderson zu einer «Aufspaltung der kompositorischen Persönlichkeit» Evangelistis und letztendlich zu einem Bruch mit dem Konservatismus der Musikakademie führt.
Anton Webern spielt für den Komponisten eine wichtige Rolle, die Anderson im dritten Kapitel ausführlich beleuchtet. Sie analysiert unter anderem die Komposition Quattro Fattoriale (4!), «das erste Werk, das Evangelisti für seinen Werkkatalog gelten ließ» und dem eine «symmetrische Reihe von Webern zugrunde liegt». Ihre Analyse ist sehr gründlich und profitiert zudem von einem Sinn für Details, so wie es auch für alle anderen Analysen des Buches gilt. Im Verlauf des Textes utilisiert Anderson immer wieder gerne Tabellen, in denen sie wichtige Merkmale auflistet. Das kann ein wenig den Lese­fluss stören, fällt aber nicht mehr negativ auf, sobald man sich daran gewöhnt hat.
Spannend ist ihre Schilderung von Evangelistis Liaison mit der elektronischen Musik, die er zwischen den Jahren 1956 und 1957 am Elektronischen Studio des WDR eingeht. Das Kapitel erläutert nicht nur Evangelistis theoretische Überlegungen zu elektronischen Sounds, sondern zeichnet auch ein stimmungsvolles Bild des Studios, der intellektuellen Diskurse und technischen Praxis, die mit der dortigen Arbeit in Verbindung standen. Anderson analysiert das elektronische Stück Incontri di fasce sonore und liefert zudem einen plausiblen Erklärungsansatz, wa­rum es Evangelistis einzige ausschließlich mit elektronischen Mitteln realisierte Komposition geblieben ist.
Weitere Kapitel nehmen Evangelistis Verhältnis zum Musiktheater unter die Lupe, tätigen in diesem Kontext Ausflüge zu den Schnittstellen von Bildender Kunst und Musik oder thematisieren Evangelistis mysteriöses «Verstummen als Komponist», das seine Position als Utopist der Neuen Musik zementierte und in die Gründung der Improvisationsgruppe Nuovo Consonanza mündete.

Raphael Smarzoch