Wolff, Christian

Kompositionen 1950-1972

Verlag/Label: edition RZ 1023-24
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/03 , Seite 90

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 5

Streben nach Authentizität ist in einer Welt der Reproduktion und der Aneignung zweitverwerteter Kopien ein zum Applaus nötigendes Verhalten. Der akustische Überblick über das Frühwerk des 1934 in Nizza geborenen Christian Wolff kann für sich wegen eines recht bescheidenen Fakts eine authentische Rekapitulation beanspruchen: Die meisten der 16 Werke wurden zeitnah zu ihrer Entstehung auf Tonträger aufgenommen. Aus dieser Tatsache speist sich eine historische Authentizität, denn die Echtheit des Materials (der Kompositionen) und die Unmittelbarkeit seiner Reproduktion (die Aufnahmen) weichen kaum voneinander ab. Daraus folgt auch, dass die Aufnahmen dem Stand der Technik ihrer Zeit gehorchen und einen Klang offerieren, der möglicherweise mit heutigen Ansprüchen nicht mehr konform geht.
Die älteste Komposition, Duo for violins (1950) – von Christian Wolff in einem Gespräch mit William Duckworth als sein erstes offizielles Werkstück, als Opus 1, bezeichnet –, besteht lediglich aus drei Tönen: D, Es und E. Als Wolff dieses aus Mehrfachkombinationen bestehende Stück komponierte, war er 16 Jahre alt. Die Komposition bedeutete für Wolff die Bekanntschaft mit John Cage, der dem talentierten Nachwuchskomponisten auf Empfehlung von Grete Sultan Unterricht gab und dessen Music of Changes wichtige Einflüsse für Wolff bereitstellte. Cage, Morton Feldman, Earle Brown und Wolff bildeten die so genannte «New York School», die eine gewisse Nähe zum Fluxus unterhielt und sich nach der gleichnamigen Malervereinigung des Abstrakten Expressionismus nannte.
Neben mehreren Werken für Klavier, u. a. For Pianist (1959), For Prepared Piano (1951) oder For Piano I (1952, von Frederic Rzewski und David Tudor interpretiert) stehen die Stücke Stones und Drinks als Beleg für Tonaufnahmen, die erst einige Jahre nach der abgeschlossenen Komposition entstanden sind. Stones (aus Prose Collection) wie auch Drinks erscheinen nicht mehr als in Schwingungen versetzte Noten, sondern bestehen aus Texteinheiten. Insbesondere diese beiden Beispiele verkörpern den enormen Experimentalcharakter der Musik am Ende der 1960er Jahre, als Geräusche und andere außermusikalische Klangquellen Einzug in die Werke zeitgenössischer Komponisten hielten. Bei Stones entstehen die Klänge durch Steine verschiedener Ar­ten und Größen, und in Drinks über­nehmen Gläser und Getränke die akustische Ausgestaltung der Komposition.
Wie variations- und facettenreich das Werk von Christian Wolff ist, zeigt sich am Beispiel der Komposition For 1, 2 or 3 People (1964), die der Urheber bewusst als offene Form und für eine beliebige Instrumentierung ausgelegt hat. Das Werk öffnet sich für viele Optionen, es beharrt nicht dogmatisch auf der ursprünglichen Basis, sondern bedient völlig unbedrängt mögliche Klangräume, hier demonstriert durch das Hamburger Kollektiv Nelly Boyd und durch David Tudor an der Barockorgel von Schlick.

Klaus Hübner