Kontinent Varèse

«In meinem Kopf singt ein Vogel das ganze Jahr.»

Verlag/Label: col legno WWE 1CD 20295
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/04 , Seite 96

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

Die Live-Mitschnitte dieser Produktion, Querschnitt durch die Konzertreihe «Kontinent Varèse» im Rahmen der Salzburger Festspiele 2009, leben ganz von den interpretatorischen Ansätzen unterschiedlicher Klangkörper, die allerdings eine wichtige Gemeinsamkeit erkennen lassen: Hier wird weniger darauf gesetzt, Edgard Varèses eigentümliche Melodie- und Klangbehandlung in Gestalt plakativ hervorstechender instrumentaler Gesten in den Vordergrund zu bringen als die musikalischen Möglichkeiten der einzelnen Partituren möglichst vielfältig auszuloten.
Besonders gelungen ist dies in Amériques, das klanglich sehr stark aufgefächert ist und durch die Transparenz im Umgang mit der Partitur erstaunliche Facetten hinzugewinnt: Indem Bertrand de Billy gemeinsam mit dem Radio-Symphonieorchester des ORF gerade die stilistischen Brüche der Partitur herausarbeitet, setzt er auf die Disparatheit der Gestaltungselemente, ohne ihre Gesamterscheinung künstlich zu glätten, wodurch Momente wie die immer wieder aufblitzenden Annäherungen an das musikalische Vorbild Strawinsky eine Akzentuierung erfahren. Dennoch verzichtet die Lesart nicht auf Momente der Klangmassierung und -verdichtung, die sich allerdings nicht unbedingt im grellen Forte abspielen müssen, sondern durch eine gelegentlich fast schon zurückhaltende dynamische Zeichnung an Kraft gewinnen. Durch diesen Zugang wird Amériques zum gedanklichen Ausgangspunkt einer schrittweisen Erkundung des Komponisten Varèse.
Ihr Gegenstück ist eine luzide Umsetzung von Offrandes, deren besonderer Reiz in der ausgewogenen Mélange unterschiedlicher Farbwerte besteht. Dadurch verrät sie viel von der Herkunft des Komponisten aus der Praxis des impressionistischen Kolorismus, kehrt aber dennoch zugleich auch die Neuartigkeit bestimmter Klangkombinationen hervor. Da­bei weist sie, vom Ensemble Modern Orchestra unter François-Xavier Roth angestimmt, eine Klarheit auf, die auch für die Wiedergabe der Kompositionen Hyperprism und Intégrales charakteristisch ist, wo sich kammermusikalische Diktion und rhythmisch prägnante Darstellung klanglicher Härten die Waage halten. Hier wie in Ecuatorial überzeugt auch die klangliche Präsenz der Aufnahme, da – trotz der problematischen Akustik am Aufnahmeort Kollegienkirche – die einzelnen Werke durchsichtig wirken und im Gegenzug durch den in ruhigeren Phasen spürbaren Nachhall auch eine gewisse Raumtiefe gewinnen.
Deutlicher als andere Produktionen deckt diese Platte viel von den künstlerischen Wurzeln des Komponisten Varèse auf, dokumentiert aber auch den Weg, der weg von den Ursprüngen und hin zum Ansatz einer atonalen, im Falle von Ionisation fast ausschließlich aus Geräuschklängen bestehenden Musik führt. Insofern macht es auch Sinn, dass dieses Schlagzeugstück zweimal erklingt und, vom Ensemble «The Percussive Planet» mit einer sehr plastischen, kammermusikalisch luftig musizierten Wiedergabe bedacht, als Rahmen um die übrigen fünf Werke herumgelegt ist.
Stefan Drees