Kurtágs Ghosts

Werke von György Kurtág und anderen

Verlag/Label: Kairos 0012902KAI
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/05 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

 

Nicht zufällig, dass nur wenige Stücke der Doppel-CD die zwei Minuten überschreiten. György Kurtág ist als Meister der kleinen Form bekannt. Und als Komponist, der sich offen zu seinen Inspirationsquellen bekennt: Johann Sebastian Bach gehört ebenso dazu wie unter anderem Franz Schubert, dessen «unerreichbarer Ausdruck von Schönheit in all ihrer Differenzierung, ihrer Ambivalenz, ihrer Komplexität» – so der Kurtág-Kenner Bálint András Varga – immer wieder eine große Rolle im Œuvre des 1926 Geborenen spielte. Der Pianist Marino Formenti (der soeben mit dem Belmont-Preis für zeitgenössische Musik der Münchner Forberg-Schneider-Stiftung ausgezeichnet worden ist, s. die Notiz auf Seite 6) hat es sich zur nicht leichten Aufgabe gemacht, die zahlreichen Einflusssphären Kurtágs zum Klingen zu bringen. Aber er geht noch darüber hinaus. Er emanzipiert sich von der Produktion, indem er das musikalische Gedächtnis des Hörers ins Spiel bringt: Was hören wir mit, wenn wir Kurtág hören?
Formentis inspirierter Zugang er­öffnet neue Perspektiven. Da entdeckt der neue Musik erprobte Italiener zu Recht Parallelen zwischen den kraftvollen Akkordballungen in Kurtágs Hommage à Muszorgskij und Mussorgskijs eigenem «Catacombae» aus den Bildern einer Ausstellung. Da verklammert er die rasanten Läufe Kurtágs in dessen knapp 15-sekündigen Hempergo’s und Five Finger Quarrel zwischen der Sonate e-Moll Domenico Scarlattis und dem energisch genommenen Präludium d-Moll aus dem 2. Band des Wohltemperierten Klaviers. Da klingen die Davidsbündlertänze Schumanns – vielleicht eine Spur zu forciert – zwischen Kurtágs Nyuszicsököny und seinem In memoriam Edison Denisov.
Formentis tour de force ist mitreißend. Irgendwann gelangt man an einen Punkt, an dem die verschiedensten Entstehungszeiten der insgesamt sechzig Stücke irrelevant werden. Alles wird zu einem logischen Fluss. Kurtágs Ton liegt plötzlich auf Bartók; Beethovens, Ligetis oder Schumanns Ton wieder auf Kurtág. Die Interpretation Formentis spielt dabei sicher ihre Rolle. Es wirkt, als habe er die CD live eingespielt. Ungeheuer organisch wirken die attacca-Übergänge. Schnell wird klar, dass Formenti kein Purist ist. Einem Scarlatti gewinnt er ungewohnt expressive Seiten ab, Beethovens Bagatelle op. 119 Nr. 10 tönt witzig, in ungewohnt hohem Tempo zwischen Bartóks Volkslied-Adaptionen.
Kurtágs Ghosts ist eine Aufsehen erregende, eine mutige CD. Mit der gewohnt schönen Kairos-Ausstattung und einem informativen Interview mit dem klugen Formenti verdient sie sich sämtliche Höchstnoten. Ein großartiges Hörvergnügen, obendrein kombiniert mit hohem Erkenntnisgewinn.

Torsten Möller