Schaeffer, Pierre

L’Œuvre Musicale

cd#1: Œuvres 1948-1952 /?cd#2 (mit Pierre Henry): Œuvres Communes 1950-1953 / cd#3: Œuvres 1958-1979

Verlag/Label: INA?GRM (www.inagrm.com; grm@ina.fr)
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/03 , Seite 87

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Eine Fehleinschätzung über Pierre Schaeffer lautet, er habe ein wichtiges Lehrbuch elektro-akustischer Musik geschrieben. In Wirklichkeit handelt Traité des objets musicaux (1966) von der Musik als Ganzem. Eine Fehleinschätzung von Pierre Schaeffer geht dahin, dass sein fast 700 Seiten zählendes Buch ein unverzichtbarer Bestandteil für diejenigen sei, die sein musikali­sches Erbe antreten möchten. In Wirklichkeit erweisen sich die musikalische und die sprachliche Logik als zwei getrennte Phänomene. Schaeffers Lebenslauf lässt sich als ein faszinierendes Erwachen aus einem Traum von Annahmen zu kompositorischen Lernprozessen lesen. Dennoch ist die Musik Schaeffers fantastisch. Die vorliegende CD-Box bietet sämtliche redigitalisierte Originalaufnahmen seiner musikalischen Werke. Einige von ihnen sind erst vor kurzem entdeckt worden.
Schaeffers Musique concrète war im doppelten Sinne bahnbrechend. Sie wurde komponiert aus konkreten Klängen aller möglichen Quellen, in einem schöpferischen Akt, der konkret (Klänge) bastelt statt abstrakt (Noten) symbolisiert. Diese Schaffensweise inspiriert junge Musiker bis auf den heutigen Tag, auch beim Fehlen einer umfassenden Sinndeutung der von Schaeffer in kompliziertem Französisch abgefassten Texte.
Eines der zwei Booklets zeigt faszinierende Bilder aus Schaeffers Leben, zum Beispiel von seinen musizierenden Eltern. Der Vater, Violinspieler, sah den Sohn musikalisch nicht für voll an und Pierre widersetzte sich dieser Ansicht nicht. Je älter Schaeffer wurde, umso größer wurde seine Enttäuschung von der eigenen Arbeit. 1986 erklärte er in einem Interview, Tim Hodgkinson gegenüber: «Leider hat es mich vierzig Jahre gekostet, um zu der Feststellung zu gelangen, dass außer Do Re Mi nichts möglich ist.» Es wundert denn auch nicht, dass Schaeffer in seinem letzten Werk Bilude (1979) das zweite Prélude des ersten Buchs von Bachs Wohltemperiertem Klavier zum Ausgangspunkt wählt. In diesem «kleinen Stück» gelangen Bachs Klavierklänge und Klänge wirbelnden Wassers oder behauener Steine im Wechseltakt zum Ausdruck. Auf dem Höhepunkt von Bachs Prélude kann man ebenso dramatisch den Anfang von Schaeffers erster Komposition, Etude aux chemins de fer aus dem Jahre 1948, heraushören. Auf diese Weise relativiert Schaeffer im musikalischen Sinne seine eigene Musik. Später gesteht er: «Ich liebe nichts außer der Musik Bachs.»
Schaeffer hat viele musikalische Phänomene untersucht und diese in Worte gefasst. Nur eines hat er in der sprachlichen Logik nicht untersucht, nämlich seinen angeblichen Glauben, dass ein «aktives» Selbstbewusstsein des Komponisten tolle neue Musik ermöglicht. Dass das nicht stimmt, hat er in der musikalischen Logik, während des Komponierens, entdeckt. Vielmehr ist der abendländische Komponist ein Bindeglied zwischen alt und modern, mit einem musikalischen Hirn begnadet, das manchmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort zugegen war – entweder in Leipzig oder in Paris.
Erwin Roebroeks