Nono, Luigi
La Lontananza Nostalgica Utopica Futura + Hans van Eck: Nuctemeron
Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 4
Lo Lontananza Nostalgica Utopica Futura, Madrigale per più Caminantes con Gidon Kremer ist eine Komposition für Violine und Tonband, die Luigi Nono Ende der 1980er Jahre für den Violinisten Gidon Kremer schrieb. Was mit einem spielerischen Akt begann, scheint sich bald in eine ambivalente Angelegenheit entwickelt zu haben. Anders lässt es sich nämlich nicht erklären, dass der Komponist zwei Tage vor der Premiere des Stücks noch immer keine Partitur für seinen Instrumentalisten angefertigt hatte. Lediglich das Tonband lag vor, das elektronisch bearbeitete Violinen-Improvisationen beinhaltete.
Zweifelte Nono etwa an seiner Komposition, die er in Kremers Anwesenheit letztendlich doch beendete? Der Violinist hatte schließlich nur zwei Tage Zeit, die komplexen Notenarchitekturen aus ungewöhnlich hohen Tönen und erweiterten Spieltechniken einzustudieren, bevor das Stück uraufgeführt wurde. Eine virtuose Leistung, die in sechs Abschnitte unterteilt ist. Selbst in den leisesten Passagen wirkt die Musik ruhelos. Sie ist ständig in Bewegung und navigiert immer wieder auf hohe Lautstärken zu, die plötzlich einsetzen und erschrecken.
Der Instrumentalist begleitet nicht einfach das Tonband. Das Stück ist als offenes System angelegt und bindet auch den Tontechniker in die Ausführung mit ein. Beide Protagonisten müssen aufmerksam aufeinander hören, Einsätze gestalten, der Komposition eine sinnvolle Form geben. Außerdem wird vom Instrumentalisten verlangt, immer wieder seine Position im Konzertsaal zu wechseln und sich an unterschiedliche Punkte des mehrkanaligen Lautsprecher-Settings zu stellen eine akustische Wanderung, die auch im Titel anklingt. Immer wieder hört man auf der Aufnahme jemanden sprechen ein gespenstischer Effekt, da man zunächst nicht weiß, woher die Stimmen kommen. Sehr eindrucksvoll sind die Momente, in denen die Elektronik wie eine große Meereswelle den akustischen Klang der Violine mit dichten Sounds einnimmt.
Komplementiert wird Nonos Stück mit einer Arbeit des Komponisten Hans van Eck für das Schreck Ensemble. Nuctemeron ist eine Komposition, die für das Musiktheater geschrieben wurde. Obwohl die visuellen Eindrücke, Videoprojektionen, der Aufführung fehlen, hat das keine Auswirkung auf die Sogwirkung der Musik, die sehr atmosphärisch ist, dunkle Klangwolken aufziehen lässt und nächtliche Impressionen zeichnet. Im Mittelpunkt steht die Violine, gespielt von Tiziana Pintus. Mit vollem und klarem Ton interagiert sie mit Sopran, Klarinette und Elektronik. Jede Bewegung wirkt bis ins letzte Detail durchgeplant. Eine Strenge und mathematische Präzision bestimmen den Sound. Unsauberkeiten, wie sie etwa in Nonos Stück auftreten können, sind nicht erwünscht. Interessant sind die elektronischen Interludien, die von einem speziellen Instrument wiedergegeben werden dem Stratifier, der in monochromen Klangwänden, dröhnenden Liegetönen und digitalen Nebelschwaden tönt. In diesen Momenten erinnert die Musik an einen Sound, der womöglich aus fernen Galaxien kommt und die Unendlichkeit des Alls bereits durchquert hat.
Raphael Smarzoch