Saariaho, Kaija

La Passion de Simone

Verlag/Label: Ondine ODE 1217-5
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/05 , Seite 82

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

«Ihre Schriften las ich seit meiner Jugend», erläutert die finnische, in Paris lebende Komponistin Kaija Saariaho ihr Faible für Simone Weil (1909-43). Um die Auswirkungen der modernen Technologie auf die soziale Kultur am eigenen Leibe zu erfahren, stand die Philosophin 1935 selbst bei Renault am Fließband. Obwohl sie als Jüdin nicht konvertierte, trägt ihr religiöses Denken mystisch-katholische Züge. «Die finnische Übersetzung ihres Buches La pesanteur et la grâce war eines der wenigen Dinge, die ich mir einpackte, als ich 1981 mein Kompositionsstudium in Deutschland fortsetzte», erinnert sich die Musikerin. So fiel der Vorschlag des amerikanischen Regisseurs Peter Sellars, das «Sujet» oratorisch zu bearbeiten, bei ihr auf bereiteten Boden.
Über die Philanthropin sollte man als Hörer zumindest wissen, dass sie ein asketisches Leben führte, Verfolgten bei der Flucht aus Hitlerdeutschland half, die republikanische Front im Spanischen Bürgerkrieg unterstützte und dem Londoner Arm der Résistance beitrat, bevor sie an TBC erkrankte und, an ihrer Ohnmacht verzagend, Nahrung und Behandlung zurückwies.
Aus der Zusammenarbeit, die sich zwischen Sellars, dem Schriftsteller Amin Maalouf und der Komponistin ergab, entstand ein Libretto in 15 Stationen, die dem Kreuzweg Jesu ähneln. In der 13. Leidensstation setzt Simone ihr Schicksal mit der Passion Christi gleich. Über ihr Leben und Denken hinaus berührt der Librettist auch allgemeine Existenzfragen.
Simone Weil fügt sich in die Galerie weiblicher Protagonisten, denen Saariaho Musiktheaterstücke widmete:  Sie alle sind widersprüchlich in ihren Handlungen und kompromisslos Liebende.
Die poetische Spannung des Oratoriums La Passion de Simone (2006), die verschiedenen Wirklichkeitsebenen der Textvorlage und ihre Brechung in unterschiedlichen Klangsphären erscheinen wie ein Prisma ihres Vokalschaffens. Dem spektralen Wesen der Klänge nachspürend, bleibt die Komponistin ihrer Stilwelt ohnehin treu.
Die Sopransolistin beschränkt sich nicht nur auf die Erzählerrolle, sie äußert sich auch als mitleidende Ereigniszeugin, imaginäre Schwester der Simone und – gegen Ende – als diese selbst. Chor und Orchester schaffen einen biegsamen Klangraum, in dem sich die Rollenwechsel der Solistin und die Lese­passagen, die der elektronische Soundtrack beiträgt, nahtlos verbinden.
«Wir sehen entweder den Staub auf dem Fenster oder die Landschaft dahinter, doch nie das Fenster selbst», notierte Simone in ihrer Schrift Die Schwere und die Gnade. Kaija Saariaho macht es erfahrbar. Wenn sich der Kampf zwischen dem Lichten und Dunklen auch eher im Innern abspielt – die mechanisch hämmernden Rhythmen der 5., der kriegerische Tumult der 11. Station lehren das Fürchten. Die Erlösung der Schuldlosen bleibt Illusion.
Der Einspielung liegt eine halbszenische Aufführung zugrunde, mit welcher der Multimedia-Komponist Jean-Baptiste Barrière die Komponistin im Oktober 2012 in Helsinki zum 60. Geburtstag überraschte. Mit von der Partie: die enorm wandlungsfähige Sopranistin Dawn Upshaw, das vorzügliche Sinfonieorchester des Finnischen Rundfunks und der feinhörige Tapiola Kammerchor unter Esa-Pekka Salonen.

Lutz Lesle