Nancarrow, Conlon

Late and Unknown: Works on Rolls

Aufnahmen der originalen Player Pianos des Komponisten

Verlag/Label: Wergo WER 6754 2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/05 , Seite 90

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Gleich das erste Stück der CD besticht durch teils gleitende, teils abrupt umschlagende Tempi, über denen ein lässig swingender Boogie-Woogie seine synkopierte Rhythmik durchhält. Ihre Blü­tezeit hatten Boogie und Ragtime in den 1910er und 1920er Jahren, als auch Strawinsky und Hindemith solche Stücke komponierten und pneumatische Selbstspielklaviere in Großstadtlokalen für Unterhaltung sorgten. Conlon Nancarrows 1988 entstandenes For Ligeti wirkt vor diesem Hintergrund zwar wie aus der Zeit gefallen, erweist sich aber gerade in dieser Zeitlosigkeit als treffsichere Huldigung sowohl jener Roa­ring Twenties als auch der Eigenständigkeit des damals 65-jährigen Widmungsträgers. Schließlich war es György Ligeti, der Nancarrows Studies for Player Piano wegen ihrer rhythmisch-metrischen Raffinessen als eine der größten Entdeckungen der Musik des 20. Jahrhunderts gefeiert hatte.
Mit zu den letzten Werken des 1997 verstorbenen Nancarrow gehören die im selben Jahr – 1988 – entstandenen Three Canons for Ursula, die ihr jeweiliges Thema in teils irrationalen Proportionen durchführen, so etwa «Canon B» im Verhältnis 6:9:10:15, wobei die ersten beiden und letzten beiden Proportionen jeweils im Verhältnis 2:3 wie «Canon C» zueinander stehen.
Irrwitzige Geschwindigkeiten nutzen dagegen die Studies 48a, b, c, wo aus dem Nichts heraus plötzlich rasende Skalen zu ballistischen Bahnen aufschießen, sensationelle Arpeggien selbst virtuoseste Tastenlöwen verblassen lassen und sich verschiedene Triller zu tumultösem Riesenklingeln überlagern, als würde gerade der Jackpot mehrerer Slot Machines gleichzeitig geknackt. Study 48c ist eine Kombination der beiden anderen Studies, die Nancarrow durch zwei Selbstspielklaviere oder die Wiedergabe per Tonband zu realisieren plante. Erst jetzt jedoch erlaubte die Digitaltechnologie eine exakte Synchronisation beider Stücke. Gemessen an seinen ohnehin schon mechanisch gesteigerten Verhältnissen scheint das Player Piano bei dieser Simultanfassung förmlich auszurasten. Wahnwitzige Anschlags-, Triller- und Geläufigkeitsorgien lassen distinkte Tonhöhen zu Glissandi verschmelzen und den üblichen Klavierklang zu quasi elektronischem Sirren mutieren. Andere Passagen klingen wie Rasgueado-Effekte, nur eben von mindestens zwanzig Gitarristen gleichzeitig gespielt.
Entstanden sind die Aufnahmen mit dem Marshall & Wendell Ampico Player Piano aus Nancarrows Nachlass in der Paul Sacher Stiftung Basel. Etliche sind Ersteinspielungen bzw. Erstaufnahmen mit dem Selbstspielklavier des Komponisten. Um auch bei schnellsten Anschlagsfolgen größtmögliche Klarheit zu erzielen, hatte Nancarrow die Filzhämmer entweder mit Leder oder kleinen Metallplättchen präpariert oder überhaupt durch massive Hartholzhämmer ersetzt, auf die er außerdem noch Stahlbänder montierte. Die Wiedergaben auf diesem Instrument lassen daher zuweilen eher die helle Metallik eines leichtgängigen Cembalos hören denn das dunklere und weichere Timbre eines ausgewachsenen Flügels. Auch das ist einfach brillant!

Rainer Nonnenmann