Donatoni, Franco

Le ruisseau sur l’escalier | Lame | Alamari | Ala

Verlag/Label: edition zeitklang, ez-56058
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/04 , Seite 82

Musikalische Wertung: 4

Technische Wertung: 4

Booklet: 4

Der italienische Komponist Franco Donatoni bezeichnete seine Musik einmal als organisch. Klangliche Wucherungen bestimmen sie. Musika­lische Elemente erscheinen in unterschiedlichen Variationen, werden aufgegriffen, weitergesponnen, umspielt und auseinandergenommen, verdichtet und entschlackt. Sein 1980 komponiertes Stück Le ruisseau sur l’escalier beginnt mit einem großen Knall, Blasinstrumente tönen in schrillen Klangfarben und werden von schnellen Tonläufen des Klaviers durchkreuzt. Eine kraftvolle Musik, die plötzlich ganz still wird und das Violoncello in den Fokus rückt. Dieser Moment ist nicht von Dauer. Schon bald beginnen sich die Dinge wieder zuzuspitzen. Donatoni baut klangliche Rhizome, in denen Themen und Motive wieder aufgegriffen und neu gedacht werden. 
Le ruisseau sur l’escalier wird zu ei­nem Blueprint, das der Komponist zur Grundlage für andere Stücke nimmt. Donatoni spricht von Proliferationen. Sie heißen Lame, Alamari, Ala und Lame II. Lame aus dem Jahre 1982 verarbeitet beispielsweise Fragmente des Soloparts für Violoncello aus Le ruisseau. Das Stück ist ge­kennzeichnet von einer expressiven Sprengkraft, schnellen rhythmischen Sprüngen und melodischen Entwicklungen, die immer neu variiert werden. Der Musikwissenschaftler David Osmond-Smith bezeichnete Donatonis Vorgehensweise als Zerstückelung alter Werke. Man könnte auch von einer Kannibalisierung seiner eigenen Musik sprechen. Für den Komponisten steht jedenfalls fest, dass es Komposition im Sinne einer Kreation von etwas Neuem nicht gibt. Es existiert nur die Transformation, das Recycling alter musikalischer Bausteine. 
Das passiert auch in dem Stück Alamari aus dem Jahre 1983 für Klavier, Violoncello und Kontrabass, das wiederum Ausschnitte aus Lame verarbeitet. Zu Beginn umspielen sich die drei Instrumente und intonieren eine komplizierte Melodie. Im weiteren Verlauf des Stücks räumt ihnen der Komponist mehr Platz zur Entfaltung ein. Das erinnert ein wenig an den Jazz, in dem die Instrumentalisten für kurze Zeit ihr solistisches Handwerk unter Beweis stellen können. Bedenkt man, dass Alamari mit einem Walkingbass-Motiv beginnt, erscheint diese Assoziation nicht ganz abwegig. 
Donatonis Musik ist eine dynamische tour de force, eine obsessive Beschäftigung mit seinem eigenen musikalischen Material und dessen Vernetzung in alternative Klanggebilde. Beim Hören dieser manischen und völlig kompromisslosen Experimente drängt sich ein anderes Bild auf: das des Ouroborus, der Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt.
Raphael Smarzoch