Gervasoni, Stefano

Least Bee

Verlag/Label: Stradivarius STR 33780
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 84

Musikalische Wertung: 3
Technische Wertung: 2
Booklet: 3

Die CD versammelt einige der zwischen 1993 und 2003 entstandenen Werke für Ensemble und Stimme des 1962 in Bergamo geborenen Stefano Gervasoni, der bei György Ligeti in Ungarn und später am IRCAM in Paris studiert hat und einen fast klassisch zu nennenden Karriereweg durch alle wichtigen europäischen Ensembles und Festivals absolviert hat. Dass Gervasoni ein viel gespielter Repräsentant der italienischen Gegenwartsmusik ist, hängt vermutlich auch mit seiner Unberechenbarkeit zusammen, die ein Bestandteil seiner Ästhetik ist und im­mer wieder Appetit auf neue Stücke macht. Wenn im Booklet schon in der Überschrift dazu eingeladen wird, «versteckten Klängen nachzuspüren», so ist das weder ironisch noch naiv gemeint. Man kann die CD mit fünf Kammermusikwerken mehrfach hören (und sollte es auch) – je nach Konzentration und Stimmungslage entstehen die Stücke immer wieder neu und anders.
Trotzdem sich etwa Least Bee für Sopran und Ensemble auf Texte von Emily Dickinson auf eine fest umrissene Zustandspoetik festlegt, bleibt doch die Obsession, in das Innere des Themas «Timbre» zu gelangen, ein durchgehender Bestandteil der Stücke Gervasonis. Dabei sind die Parameter von Klangfarbe, Form und Rhythmus derart spielerisch zueinander in Beziehung gesetzt, dass man es manchmal mit klingenden Wimmelbildern zu tun haben glaubt. So etwa in Dal belvedere di non ritorno (1993), das mit immer neu variierten Pulsationen im Vorwärtsdrang starke Lebendigkeit erzeugt.
Stückübergreifend bilden die Textvertonungen Godspell (auf Gedichte von Philip Levine) und Least Bee als poetische Aphorismen ein Paar auf der CD, ebenso Eyeing (2000) und In nomine R. (2001). Ersteres ist die Betrachtung eines früheren Stücks als neue Komposition, quasi Übermalung. Leider ist die Räumlichkeit des Werks mit abseitig platzierter Posaune und Kontrabass in der Aufnahme nur schwer auszumachen. In Nomine R. war Gervasonis Beitrag zum «in nomine»-Projekt des ensemble recherche und enthält ebenfalls in vielen Schichten Musik über Musik.
Interessant erscheint bei allen Stücken des Komponisten, dass dessen Neugier und Staunen über einmal gefundene Klänge sich unmittelbar mitteilt, er keinen Gefallen daran findet, seine Erfindungen in Chiffrierung und Subtexten zu verschleiern oder zu verkomplizieren. Das führt im Gegenzug im Hörergebnis zu subtilem Humor und leichter Ironie, wenn Gervasoni in den Liedern Gospelelemente versteckt oder das Löwengebrüll im Schlagzeug offen den Buchstaben «R» lautmalerisiert. Das 1977 gegründete Divertimento Ensemble spielt unter Leitung von Sandro Gorli diese Musik zwar sehr engagiert, doch an einigen entscheidenden Stellen fehlt auch die Genauigkeit, die etwa die Plötzlichkeit einer Attacke ausmacht. Insgesamt hinterlässt das etwas matte Klangbild vor allem in den Stücken mit den beiden Sängerinnen Margherita Chiminelli (Sopran) und Sonia Turchetta (Mezzo) keinen guten Eindruck; im ansonsten schön gestalteten Booklet fällt auf, dass Godspell gut zwanzig Minuten kürzer ist als in der Trackliste angegeben – solche Fehler sind vermeidbar.

Alexander Keuk