Riehm, Rolf

Lenz in Moskau | Im Nachtigallental | Ton für Ton | Au Bord D’une Source

Verlag/Label: Wergo WER 73142
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/02 , Seite 90

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Rolf Riehm steht im Ruf, ein eigenwilliger Komponist zu sein und Traditionen häufig bewusst außer Acht zu lassen oder ihnen gar explizit zu widersprechen. Serialismus, Neue Komplexität oder Minimal Music – zu keiner dieser Strömungen hätte der 1937 Geborene sich jemals bekannt, und doch finden sich häufig Anklänge an deren Idiome in seiner Musik. Die Ferne von einer musikwissenschaftlich greifbaren Systematik im Gesamtwerk zeugt also weniger von einem solipsistischen Eigenbrötlertum, sondern von einer sich sämtliche musikalische Ausdrucksmöglichkeiten radikal offen haltenden Freiheit. Auch Tonalität ist in seinem Schaffen nicht verboten, aber sie muss geboten sein, um zum Einsatz zu kommen.
Darüber, was «geboten» ist und was nicht, entscheidet in der Ästhetik Rolf Riehms häufig die theatrale Kohärenz des Werks. Im ersten Stück der vorliegenden CD ist diese durch die Geschichte von Michael Reinhold Lenz bestimmt, jener durch Georg Büchner zum Mythos gewordenen Urgestalt der pathologischen Schizophrenie. Riehm setzt dabei nicht den linearen Handlungsverlauf von Büchners Vorlage in Musik, sondern lässt die Szenen zu Keimzellen für Aktionen des Ensembles werden, die wie vermeintlich beiläufig in Klang resultieren. So halten repetitive Figuren des Violoncellos anfangs die Sinne beieinander, bis vom Band Sprecher einsetzen, um das weitere Geschehen konkret zu lenken. Aber die Worte sind falsche Fährten, die die Musik hakenschlagend konterkariert. Mit Atemgeräuschen und lyrisch-tonalen, aber funktionsharmonisch ins Leere führenden Passagen zeichnet Riehm den unvermeidlichen Weg, an dessen Ende rückwärts läutende Glocken Lenzens Niedergang markieren – eine Schlusswendung so subtil wie simpel.
Aber vordergründige Effekte inte­ressieren Riehm ohnehin nicht, sein Fokus gilt dem narrativen Akt, dem Prozess. Wie auch in Ton für Ton (weiße Straßen Babylons), hier von Kontrabassklarinettist Theo Nabicht mit unerschöpflicher Eloquenz interpretiert. Die enormen Ausdrucksmöglichkeiten des Instruments sind notwendig, um zu artikulieren, worum es Riehm hier geht: nämlich um die Vermittlung des Unvermittelbaren. Anstoß für die Komposition gab ein Flug über den Irak und das Bewusstsein über die – aus der großen Höhe unsichtbare – Vernichtung, die dort die Wiege der Zivilisation heimsucht. Dieser surreale Schwebezustand zwischen Untergang und Neubeginn lässt sich zwangsläufig nur schrittweise – Ton für Ton – nachvollziehen. Vorsichtig tasten sich die Töne vor, finden ihre eigene Linie, glissandieren in höhere Lagen und taumeln haltlos aus der Reihe.
Auch die beiden weiteren Stücke der CD, Im Nachtigallental für Violoncello solo und Au bord d’une source für Tenorblockflöte, Orchester und Zuspielungen, haben Narrative zur Grundlage. Riehm bearbeitet auch sie mit erfrischendem Hang zur fantasierenden, abschweifenden Assoziation. Die CD wird damit zum inspirierenden Überblick seines aktuelleren Schaffens.
Patrick Klingenschmitt