Murail, Tristan

Les Nuages de Magellan

Verlag/Label: ReR Megacorp ReRV1
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 90

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Tatsächlich existieren mit dem Theremin und den Ondes Martenot zwei elektronische monofone Musikinstrumente, deren Erfinder Lew Sergejewitsch Termen und Maurice Martenot sich 1923 persönlich kennenlernten. Martenots Begegnung mit dem Theremin war für seine Erfindung maßgeblich.
Arthur Honegger, Edgar Varèse und Darius Milhaud komponierten für Ondes Martenot, und auch Olivier Messiaen, bei dem Tristan Murail studierte, beschäftigte sich kompositorisch mit diesem Instrument. Über die von Murail mitgegründeten Ensembles «MATH 72», «L’Itinéraire», «Ensemble d’Instruments Elec­troniques de l’Itinéraire» (EIEI) und «Collectif de Recherche instrumental et de Synthèse» (CRISS) formierte sich 2008 das Volta Ensemble von Victor Paimblanc. Es beschäftigte sich mit dem historischen Repertoire der Vorgängerensembles und wandte sich neuen Werken, die auch rockmusikalische Elemente enthielten, zu.
Tristan Murail (*1947 in Le Hav­re/Frankreich) wurde prägend von Giacinto Scelsi beeinflusst und fand in den 1970er Jahren einen eigenen Zugang zur progressiven Rockmusik von Gruppen wie Pink Floyd und Tangerine Dream. 1971 entstand sein erstes Ondes-Martenot-Werk Mach 2,5. Weltraumklänge, Sterngeräusch, Asteroidentöne – spontan denkt man beim ersten Hören an diese Begriffe. Vom Urknall befreit, katapultiert sich dieses Klangmaterial in damals revolutionäre Geräusch- und Lärmprojekte. Murail beschäftigte sich in Mach 2,5 mit der Geschwindigkeit, die das französische Flugzeug Concorde zu dieser Zeit fliegen konnte. Sound in Bewegung, Impressionen der Geschwindigkeit wären ohne elektronische Instrumente gar nicht darstellbar. Murail nutzte den realen Lärmterror für seine differenzierten Klangillustrationen jenseits von ästhetischen Vorgaben oder Definitionen.
Ausgenommen La Conquete de l’Antartique (1982) entstandenen alle Werke in der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Murails Examensarbeit für das Ondes-Martenot-Studium, Tigres de verre, basiert auf dem Text Tlön, Uqbar, Orbis Tertius von Jorge Luis Borges. Darin forscht der Autor nach einem fiktiven Land namens Uqbar und äußert Gedanken über die Sprache, die Philosophie und die Epistemologie von Tlön. Murails Komposition verändert seine Klangillustration vom neblig-dunklen in freundlich-helles Soundmaterial, wo ein typisches Pfeifen die Existenz des Orbits dokumentiert. Les Nuages de Magellan für zwei Ondes Martenot, E-Gitarre und Perkussion beschreibt die Magellanschen Wolken, zwei Zwerggalaxien in nächster Nachbarschaft zur Milchstraße. Beide Wol­ken zusammen bestehen aus zwanzig Milliarden Sternen in einer Ent­fernung von 170000 bzw. 200000 Lichtjahren. Die dichte Konzentration der Wolken übernahm Murail für seine 1973 entstandene Komposition, in der galaktische Geräuschinszenierungen einerseits und der durchdringende Klang der Ondes Martenot andererseits die Hauptlast des Stücks tragen.

Klaus Hübner