Liebeslieder – dem ensemble recherche gewidmet

Verlag/Label: 2 CDs, Wergo WER 67922
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/04 , Seite 87

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Vier Jahre sind vergangen, seitdem das ensemble recherche zu seinem 25-jährigen Jubiläum 2010 fast resignierend feststellte: «Es gibt keine Liebeslieder mehr!» Der Wunsch eines derartigen Geburtstagsgeschenks und das Verlangen des Ensembles nach zeitgenössischen Liebesliedern blieb nicht unbeachtet. Dreißig lebende Tonsetzer und ein längst verstorbener Komponist (Wolfgang Amadeus Mo­zart) erfüllten dem Geburtstagskind seinen Wunsch, einer großen Tradition deutscher Liebesliedschöpfer zu folgen und mit auf den Klangkörper geschriebener und gewidmeter Mu­sik eine zeitgenössische Variante dieses Genres zu gestalten.
Die Neue Musik hat sich nie mit Liebesliedern beschäftigt. Ein Umstand, der erst ins Bewusstsein drängte, als die Thematik vom ensemble recherche artikuliert und zur Aufforderung erhoben wurde, dem Abhilfe zu verschaffen. Was im Bereich des Schlagers und der Popmusik von je­her zum festen Bestandteil der Lyrik zählt, war für die Neue Musik absolutes Neuland. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die dem ensemble recherche gewidmeten Stücke sich als gefühlsbetonte, hell leuchtende Seite der Avantgarde vorstellen.
Carola Bauckholts Liebeslied zwitschert – dargestellt durch die Piccolo­flöte – schnäbelnderweise zarte, fordernde Liebesbotschaften über die Gefühlslandschaft der zeitgenössischen Avantgarde, ein Vogelschwarm der Emotionen, der sich mit der rauen Wirklichkeit des Lebens arrangieren muss. Der Vogelstimmenkatalog der Komponistin erinnert ein wenig an Olivier Messiaens Catalogue d’oiseaux, kombiniert jedoch Gefühle und Rea­lität auf einer überwiegend auf den Klang ausgerichteten Ebene.
Der baskische Komponist Ramon Lazkano kommentiert in knapp zwei Minuten Länge (s)einen Ritt durch die Klanglandschaft der Liebe, indem er Ecken und Kanten, Brüche und Sehnsüchte der Liebe in teils überdeutlich dargestellte Fluchten vor dem Einzigartigen aufzeigt. Überdeutlich klassisch ausgerichtet tritt Salvatore Sciarrinos Bearbeitung von Mozarts Adagio für Glasharmonika KV 356 (617a) auf. Sciarrino übernahm die Vorlage ohne Änderung, bastelte lediglich am Instrumentenkostüm – eine Glasharmonika kommt nicht vor, da­für Klarinette, Flöte, Oboe, Violine, Viola und Violoncello. Den stilistischen Bruch zu Mozart setzt Fabio Nieder mit «Der SCHUH auf dem WEG zum SATURINO». Nieder zelebriert den «Liebesgesang in drei Bildern» performanceartig wie ein avantgardistisches Bühnenwerk.
Ein üppig ausgestattetes Schlagzeugset dominiert das Liebeslied von Jörg Widmann, der der Liebesleidenschaft ein imposantes Denkmal setzt: Was sich noch zaghaft in Gezwitscher ausdehnt, holt die Kraft einer sich vollkommen auf den anderen einlassenden Liebe wieder ein und zeigt, welche Kratzer, Dellen und Erschütterungen menschliche Gefühlswallungen hinterlassen können. Da unterscheidet sich die Avantgarde überhaupt nicht von barocker Emotionalität und romantischer Demut.

Klaus Hübner