Ferrari, Luc
Madame de Shanghai / Après presque rien / Visage 2
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5
Einen vielseitigeren Komponisten kann man sich schwerlich vorstellen. Konventionelle Ensemblepartituren hat Luc Ferrari (1929-2005) ebenso wenig verschmäht wie Improvisation, offene Form, Radiokunst und Klanginstallation. Seine größte Stärke lag jedoch in der Zusammenführung instrumentaler Klangsphären mit Techniken der Bandkomposition, wie sie die Musique concrète ausgeprägt hatte, zu deren Protagonisten Pierre Schaeffer und Pierre Henry Ferrari enge Verbindungen unterhielt. Stilistischer Purismus war dem großen Experimentator der französischen Musik schon in den frühen 1950er Jahren suspekt, stattdessen schuf Ferrari hybride Klang-Gebilde, von deren Stimmigkeit sich manch junger Multimedialist der Jetztzeit einige Scheiben abschneiden könnte. Auch dies wird in der zweiten Folge der «Edition Luc Ferrari» bei mode offenkundig, die vom frühen Serialismus bis zur Sample-Technik fast ein halbes Jahrhundert überbrückt und dabei mit zwei Ersteinspielungen aufwartet.
Visage 2 für Blechbläser und Schlagzeug (1955/56) klingt mit seinem übersteigerten Punktualismus fast wie eine Ironisierung der seriellen Musik mit im Raum verteilten Musikern, die eine Verkörperlichung der Reihentechnik gewährleisten sollen. Ein erstaunliches Stück, das derart chaotische Züge entwickelt, als solle der Rationalismus der Darmstädter Avantgarde hier bewusst in Trümmer gehauen werden.
Ein wunderbares Beispiel für Ferraris «Musique anecdotique» gibt Madame de Shanghai für drei Flöten und digital gespeicherte Klänge (1996) ab, das stationäre Holzbläserflächen mit urbanen Realgeräuschen vermischt, die Ferrari in der Avenue dIvry im 13. Arondissement von Paris, dem asiatischen Viertel der Stadt, aufnahm. Dort schickt er eine junge Chinesin auf die Reise durch den urbanen (vornehmlich vietnamesisch geprägten) Sprach- und Sounddschungel, um ein Video von Orson Welles Film The Lady of Shanghai zu besorgen. Ferraris vielschichtige Mixtur aus Klanglandschaft und Hörspiel entwickelt hier wahrscheinlich gerade deshalb ganz besondere Intensität, weil Realistik und Phantastik, Feldaufnahme und poetische Inszenierung sich bis zur Unkenntlichkeit vermischen.
Ferraris Wille, Kunst und Leben in einer heterogenen Klangtopografie zu vereinen, ist auch im ausladenden Après presque rien für 14 Instrumente und zwei Sampler (2004) kurz vor seinem Tod noch ungebrochen: eine burlesk-virtuose Reaktion auf die frühere Presque rien-Serie. Ferraris dortige Überantwortung an die Planlosigkeit im Rahmen eines betont unkonzeptuellen, impulsiven Komponierens fördert dabei halsbrecherische Klavierpassagen ebenso zu Tage wie Realien aus Film, Marktplatz und Spielhölle – ein Klang-Karussell, das sich am Ende mit bedrohlicher Ausweglosigkeit im Kreis dreht.
Dirk Wieschollek