Czernowin, Chaya

Maim [Water]

Verlag/Label: mode 219
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/05 , Seite 87

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 3
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

Eigentlich war es der «Wunsch, mich mit der Flexibilität und Schönheit des Phänomens Wasser zu befassen», erläutert Chaya Czernowin die Beweggründe ihrer opulenten Orchester­kom­position MAIM [Water]. Doch dann kamen der 11. September 2001 und seine Folgeereignisse im Mittleren Osten, und die zunächst ganz stofflich gedachten Energieströme und Bewegungsimpulse wurden tagebuchartig von außermusikalischen Befindlichkeiten infiltriert, um sich unter dem Einfluss der destruktiven Energien politischer Realität völlig anders als geplant zu entwickeln. Vergegenwärtigt man sich, dass Czernowin eine
israelische Komponistin ist (geb. 1957 in Haifa) und welche Bedeutung «Was­ser» ganz unmetaphorisch im Konflikt zwischen Israel und Palästina zukommt, wird noch klarer, warum diese eigentlich so zerbrechlich gedachte Musik fortwährend von katastrophischen Erschütterungen heimgesucht wird.
Mehr noch: Für Czernowin – von der undomestizierten Bodenständigkeit Dieter Schnebels ebenso beeinflusst wie von der strukturellen Komplexität Brian Ferneyhoughs – wurde der handfeste Konflikt von Wirklichkeit und Poesie ein künstlerischer und avancierte zum zentralen Problem der Komposition: «Das Stück wurde zu einer Bühne für einen Dialog zwischen der Notwendigkeit, sich unter Ausschluss der Welt nach innen zu wenden, und der Notwendigkeit, sich der schwierigen Realität bewusst zu werden und auf sie zu reagieren.» Ein Dilemma, das die Herkunft der Komponistin nicht gerade erleichterte: «Als Israelin wurde ich dazu erzogen, den Aufbau eines Landes (und damit die Existenz als Teil eines Kollektivs) für nobler und wichtiger zu halten als die Produktion von Kunst (und damit die Existenz als Individuum). Innerlich muss ich noch immer darum kämpfen und mein Recht verteidigen, mich der Kunst zu widmen, weil dieses Engagement für mich eine grundsätzlich individualisierte, subjektive Substanz hat.» Vielleicht ist aber gerade dieser Zwiespalt die Crux dieses episch ausholenden Triptychons für fünf Solisten, Live-Elektronik und großes Orchester, das hier in einer beeindruckend plasti­schen Live-Aufnahme von der Berliner «MaerzMusik 2007» zu hören ist.
Czernowins vegetative Klangpro­zesse und deren launische Aggregatzustände kommen über weite Strecken recht unverbindlich daher und fallen bei aller gewollten Fragmentarisierung oft seltsam auseinander. Erst im Schlusssatz «Mei macha’a (water of dissent)» findet diese mental zerrissene Klanglandschaft zwingende Formulierungen zwischen Chaos und Schweigen. Vor allem das abgründig düster brodelnde Tubax (ein Kontrabass-Saxofon mit ganz besonderen Farbnuancen), das hier des Öfteren mit sich selbst, respektive seinem elektronischen Schatten, kommuniziert, trägt seinen Teil zur bedrohlichen Grundstimmung bei. Aber auch die anderen Solisten, teils wie in einem Versteckspiel mit dem Gesamtzusammenhang verwoben, teils durch extrovertierte Klanggesten in den Vordergrund gerückt, zeigen in diesem Konzertmitschnitt bemerkenswerte Präsenz.

Dirk Wieschollek